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Zen ist Transzendenz

Im Jahr seines Todes fand ein Interview mit Sawaki Rôshi statt. Man kann es auf Dailymotion im Original hören, garniert mit einigen Fotos des Meisters. Nach dem Links folgt die deutsche Übersetzung.

http://www.dailymotion.com/video/x9j87v_kodo-sawaki-interview-part-i_people (Letzte Sichtung: 07.08.2019; Teil 2 sah ich nicht mehr.)


Einleitung

Heute senden wir ein Interview mit dem in Kyôto ansässigen Zenmeister Kôdô Sawaki, Prof. h.c. an der Komazawa Universität. Er wird befragt von Shunpei Ueyama, Professor am Institut für Kulturwissenschaften der Kyôto Universität.

Kôdô Sawaki ist heute 84 Jahre alt und wohnt derzeit in Kyôto, (…) im Antaiji, der zur Sôtô-Schule gehört.

Er wird auch „Obdachloser Kôdô“ genannt, da er bis zum heutigen Tag weder ein Zuhause noch einen Tempel hat.

Er wurde 1880 in der Stadt Tsu, Präfektur Mie, geboren. Seine Eltern starben früh, und so wurde er von einem Lampion-Händler adoptiert. Mit 17 lief er von zu Hause weg, um Mönch in Eiheiji zu werden, danach pilgerte er durch ganz Japan.

U = Ueyama (Interviewer)
S = Sawaki

Interview

U: Hier ist sehr ruhig, wie lange sind Sie schon hier in Antaiji?

S: Seit 16 Jahren.

U: Zu welcher Schule gehört der Antaiji?

S: Zur Sôtô-Schule. In Antaiji wird Sôtô-Zen praktiziert.Normalerweise braucht ein Tempel eine Gemeinde, die ihn erhält. Aber Antaiji nicht, es ist nur für Leute, die Zen kennen lernen möchten. Abt Eto von der Komazawa-Universität hat sich nicht um Antaiji gekümmert. Als er gestorben war, hat die Uni mir die Verantwortung übertragen. Das war nicht mein Wunsch ... für uns war es ein verlassenes Haus.

U: Ah so ... das heißt, dass der Tempel verlassen war, oder?

S: Ja, es gab viele Geschichten um das Haus. .. in der Kriegszeit haben Aussiedler hier gelebt, auch in diesem Raum sind zum Beispiel viele Lungenkranke gestorben ...

U: Als ich Ihre Bücher gelesen habe, hatte ich den Eindruck, dass Sie schon immer viel zu tun hatten. Aber seit kurzem haben Sie sich hierher zurückgezogen und führen ein ruhiges Leben. Was machen Sie hier jeden Tag?

S: Das wundert mich selber, dass es nicht langweilig ist. Aber ich lese ja jeden Tag.

U: Was haben Sie zuletzt gelesen?

S: In der Vergangenheit habe ich nur Pflichtlektüre gelesen, aber zurzeit lese ich verschiedene Bücher. Zum Beispiel zwei Bücher über die Urbevölkerung Rumäniens von einem deutschen und einem japanischen Autor.

U: Wie fanden Sie die?

S: Das japanische Buch war interessanter, denke ich.

U: Wann haben Sie mit Zen begonnen?

S: Das war unglaublich früh, mit 16 lief ich von zu Hause weg, um Mönch im Eiheiji zu werden.

U: Schon von Anfang an im Eiheiji!?

S: Genau. Ich habe in einem Lampiongeschäft gearbeitet, aber dann bin auf und davon. Im Eiheiji gibt es eine ganz bestimmte Form von Zazen, aber mein Eindruck war, die Leute haben sich nicht konzentriert, weil sie es ungern gemacht haben. Mitte des Sommers, zur Obon-Zeit, half ich dann im Ryuunji aus, dem Tempel eines führenden Priesters (dem Ino) des Eiheiji. Als die Arbeit im Tempel eines Tages endlich erledigt war, habe ich frei bekommen. Aber ich hatte keine Ahnung ... was ich machen sollte. Weil ich keine Erfahrung hatte ... immer nur gearbeitet hatte, wie sollte ich mich amüsieren?? Da beschloss ich, in einem Hinterzimmer allein Zazen zu üben. Plötzlich öffnete die alte Frau, die mich gewöhnlich nur wie einen Laufburschen herum- kommandierte, die Schiebetür, um einige Tabletts und Geschirr in dem Raum zu verstauen. Die Alte muss gedacht haben: „Ich habe keine Ahnung von Zazen, aber das ist etwas Besonderes.“ Das war wirklich ein Wunder, ich habe das Wesen des Zazen verstanden, ohne es vorher zu erlernen. Danach bin ich ohne Geld nach Amakusa-Kyushu gegangen.

U: Sie sind zu Fuß und ohne Geld gegangen?

S: Genau. Das war sehr, sehr schwierig.

U: Warum haben Sie das gemacht?

S: Eiheiji hat mich gelangweilt und ein alter Klosterbruder hat sich gemeldet und mir angeboten, dass er mir die Reisekosten zahlt. Aber plötzlich sagte er: „Ich kann dir kein Geld geben.” Hier konnte ich nicht bleiben, aber ich wollte auch nicht zum Lampiongeschäft zurück. Ich dachte, dann es ist schon besser, dass ich ohne Geld nach Amakusa gehe und zwar zu Fuß, es wird schon werden. Aber natürlich das war sehr, sehr schwierig.

U: Übrigens, Sie haben im Horyuji-Tempel Yuishiki [die Yogacara-Philosophie] studiert. Hat dies einen Einfluss auf Ihr Leben ausgeübt?

S: Yuishiki ist eine elementare buddhistische Philosophie. Zen hingegen ist keine Wissenschaft, sondern Transzendenz.

U: Ich weiß nicht genau, was Yuishiki oder Kusya [Abhidharma] sind, aber es sind doch total logische Wissenschaften.

S: Genau.

U: Zen folgt nicht dieser Logik, Zen ist völlig anders und normalerweise wollen diejenigen, die Zen lernen, nicht Yuishiki lernen.

S: Ja. Deshalb wurde Zen zur Häresie. In meinem Fall, gab mir ein Professor an der Uni den Rat, dass es bedenklich sei, wenn ich keine Grundkenntnisse des Buddhismus hätte. Dann später nach dem Krieg ...

U: … dem Russisch-Japanischen Krieg, richtig ...?

S: Genau, nach dem Russisch-Japanischen Krieg bin ich nach Horyuji gegangen und habe dort sieben oder acht Jahre lang gelernt. Mein ganzes Leben lang war ich immer ohne ein Zuhause, musste also nie dorthin zurück gehen. In dieser Zeit habe ich den Buddhismus studiert, unter anderem das Shōbōgenzō.

U: Können Sie mir sagen, was das Merkmal des Zen ist?

S: Bodhidharma hat gesagt: „Kakunen musho“. [Anm: Etwa mit „Unendliche Leere, nichts Heiliges“ zu übersetzen] Das bedeutet, die Wahrheit ist wie der blaue Himmel ... es gibt nichts. Es gibt keine Idee von „Gut und Böse“ oder „Gewinn und Verlust“, kein Dogma, nur Leere. Weil die Menschen ihren eigenen Dogmen folgen, gibt es den Konflikt der Ideen. Wenn dies passiert, kann ich dazu nichts sagen, lediglich Zazen praktizieren.

U: Heute ist die Wissenschaft am Wichtigsten und sie bringt immer neue Theorien hervor. Wir studieren und halten sie für die Triebkraft unseres Lebens. Aber ich denke, diese Art zu leben ist das genaue Gegenteil von Zen.

S: Stimmt.

U: Vom Standpunkt des Zen aus ist die Wissenschaft also nicht gut?

S: Die Wissenschaft findet nie ein Ende, deshalb muss der Mensch in ihrem Auftrag sich stets neuen Aufgaben stellen.

U: Hat Zen ein Ende?

S: Zen oder die Wahrheit haben kein Ende und keinen Anfang. Es gibt nur eine Wahrheit, ob es sich nun um eine Urgesellschaft oder um die Menschen der Gegenwart handelt. Wir könnten auf die gleiche Art und Weise leben wie früher, nur dass die Menschen heute besorgt sind wegen des Fortschritts der Wissenschaft. Nur einen Knopf zu drücken – und eine Katastrophe passiert. Das klingt verrückt, aber ist dies die wahre Zivilisation? Da ist es sicherer, wenn die Leute zu Hause Zazen praktizieren.

U: Sie haben gesagt, dass Zen freimütig ist. Aber im Shōbōgenzō gibt es beispielsweise viele Beschreibungen der Formen des Zazen. Sie haben ja auch strenge Regeln im Bezug auf die Robe, die Sie tragen. Diese Dinge folgen einer sehr strengen Logik, und ich verstehe nicht, warum man diese strikten Formen befolgen muss, obwohl Zen doch so freimütig ist.

S: Es ist einfach so. Wie fühle ich mich, wenn ich einer Regel folge? Oder wie sieht es aus, wenn ich die Robe so trage? Erinnern Sie sich an die Geschichte aus meiner Jugend, als die alte Frau den Eindruck hatte, mein Zazen sei etwas Besonderes. Das ist wichtig.  Es heisst auch: „Iigisoku buppou“. Die Form ist wichtig, auch Dōgen hat immer auf perfekte Formen geachtet. Wenn ich in einer Robe Zazen praktiziere, dann ist es vollständig. Die Leute nennen dies die „Kesa-shu“ (Roben-Schule). Bei meinem Zazen kommt es auf die Robe an, andere Dinge sind dabei egal.

U: Es gibt die Idee von „Kai“. Wie betrachtet man „Kai“ vom Standpunkt des Zen?

S: Wenn jemand ein Vergehen beging, belehrte Siddhartha Gautama ihn eines Besseren. „Kai“ leitet sich her von dieser Belehrung. Erleuchtung heißt, die wahre Jukai“ (Belehrung) bekommen. Es gibt das Wort „Zenkai ichinyo“. Dass heißt, Zen und Kai sind identisch und bedeuten die absolute Wahrheit ... Man kann nichts Schlechtes tun, wenn man Zazen ausübt.

U: Für den Außenstehenden sah es lange Zeit so aus, dass Mönche, wie auch in Ihrem Fall, kein Familienleben haben. Auch Siddhartha Gautama hatte seine Familie für den Buddhismus verlassen. Aber zurzeit gibt es viele Mönche, die Familie haben und mit ihnen zusammen wohnen. Es gibt einen Unterschied. Ich habe den Eindruck, dass der Buddhismus gegenwärtig einen anderen Charakter hat.

S: Diese Mönche müssen strenger sein, sonst könnten sie leicht, statt Mönche zu sein, etwas anderes werden. Jedenfalls, habe ich Glück, weil ich kein Zuhause habe. Das gibt mir Erfolg als Mönch. Aber mein Leben ohne Familie ist bequem und ohne Angst. Das genügt.

U: Normalerweise denkt man, kein Geld zu haben, sei nicht angenehm. Dann ergreift man eine Berufsausbildung für einen Job. Auch Mönche versuchen oft, die Zahl der Spender, die sie versorgen, zu vergrößern. Sie aber, Rôshi, bekommen jeden Tag Essen und Kleidung nur dafür, dass sie hier in Antaiji sind. Alle Leute wundern sich, wie das funktioniert. 

S: In einem Lied von Daichi-Zenji heisst es:

„Viel Zeit ist vergangen, seit ich Mönch wurde,
immer noch folge ich den alten Meistern.
Jeden Mittag gehe ich in die Stadt, 
mache meine Almosen-Runde.
 Jede Nacht bleibe ich irgendwo in der Nähe 
der ruhig daliegenden Stadt
und mache Zazen.“

Ich aber möchte nicht die Almosen-Runde machen. Und ich hatte Glück, sie nicht machen zu müssen, weil ich viel gereist bin und immer bei jemandem unterkriechen konnte. Es gab keine Zeit fürs Almosensammeln.

U: Wenn man alt wird, beginnt man Angst vor dem Alleinsein zu haben. Geht es Ihnen auch so? Haben Sie sich jemals vorgestellt, wie es wäre, wenn Sie eine Familie hätten?

S: Nein, ich bin froh dass ich keine Familie habe. Es gäbe viel zu tun. Ich bin allein und habe nur die Verantwortung für mich. Und ich habe Glück, dass ich hier bleiben kann, obwohl ich „heimatlos“ bin. Hier wächst wildes Gras und die Haushälterin bereitet daraus Gerichte. Die Vögel singen, der Ahorn verfärbt sich rot, wenn der Herbst kommt ... Ich lebe im absoluten Glück!

  U: Können Sie mir sagen, wie der Buddhismus zur modernen Gesellschaft beigetragen hat?

S: Niemand versteht Siddhartha Gautama. Warum hat er seine Familie verlassen? Was ist „Satori”? Das ist nicht einfach zu verstehen. Aber entscheidend. Was ist am Wichtigsten? Das ist nicht „satori“, auch nicht „Übung“. Ich würde sagen, am Wichtigsten ist: „kein Zuhause zu haben”. Wenn man etwas besitzt, streitet man darum wegen dieses „Heims“.

U: Aber das klingt sehr schwierig. Normalerweise hat man am Anfang kein eigenes Haus oder Heim und man arbeitet, um ein „Heim“ zu bekommen.

S: Diese Idee ist falsch. „Bon-fu“ nennt man jemanden, der ein eigenes Heim anstrebt. Für den Bon-fu zählt nur das eigene Heim und so bricht dann Streit mit anderen aus. Und wenn sie miteinander streiten, so gibt es keine Lösung, da beide bereits einen Fehler gemacht haben. Jeder von ihnen sollte wissen, dass sie Bon-fu sind und versuchen sich gegenseitig zu verstehen.

U: Vielen Dank!


[Übersetzt von Manami Nagahari]

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