Mit Rain fuhren wir zum Thai-Boxen. Khmer gegen Thai, so sahen die aufregendsten Kämpfe aus. Ich schloss mit Rain Wetten ab, natürlich auf die Thais, die ich in ihrem Heimatland oft genug kämpfen gesehen hatte. Das war ein Fehler. Die Khmer-Kämpfer waren so voller Wut und Hass auf ihre Nachbarn, dass sie sie nach Strich und Faden verprügelten. Ich saß am Gang, wo die geschlagenen Thais von ihren Gehilfen weggeschleppt wurden. Der Kampfgeist der Khmer war also ungebrochen. Joy wollte nicht mehr zurück und schlief mit Rain unter dessen Moskitonetz, im Freien, vor den Zimmern des Gästehauses, wie viele Fahrer. Einige wohnten zu weit weg, um abends zu ihren Familien zurückzukehren, andere hatten kein Zuhause. Außerdem war das eine Schutzmaßnahme, denn schon einmal waren des Nachts Überfälle auf Gäste oder schlafende Fahrer verübt worden, deren Mopeds beliebtes Diebesgut darstellen. Rain düste nachts so schnell aus Angkor heraus, wie er konnte. Man hatte einmal einen Fahrer vom Moped geschossen, um es zu rauben. Die Mopeds sind je nach Zustand zwischen vierhundert und tausend Dollar wert, was also einem oder mehreren durchschnittlichen Jahreseinkommen in Kambodscha entspricht. Wenn man schnell fährt, meinte Rain, würde keiner schießen, weil das Moped nach dem Sturz unbrauchbar wäre. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass der Khmer in seinem eigenen Heimatland mehr Angst hatte als ich.
Dann traf ich Ron. Sie war klein, zierlich und sprach überraschend gut Englisch. Mit einer Lage Schals auf ihrem Arm, wie sie Kinder dort häufig neben Postkarten, Flöten, Mobiles und T-Shirts verkaufen, sprach sie mich an: „Mister, you buy scalf.“ – „No, thank you.“ – „When you come back, you buy.“ Das klang mehr wie ein Befehl als eine Frage. „No, I don’t need one.“ – „What you need?“, insistierte die Kleine. „I need a car“, scherzte ich. Als ich nach einer Stunde aus dem Tempel zurückkam, meinte sie: „Mister, I have car for you.“ – „What?“ – „You said you want car, now you buy car.“ Das gefiel mir, denn auch sie meinte es nicht ernst. Ich fragte sie, ob ich mir anschauen dürfe, wie sie lebt. Sie lud mich in ihre Hütte nahe dem Teich bei Sra Srang ein. Die Behausung war überraschend ebenerdig, flach und mit Palmblättern gedeckt. Ärmere Khmer auf dem Land bevorzugen Holzhütten auf Stelzen. Dafür hatte Rons Familie ein umzäuntes Grundstück, auf dem der Vater Gemüse und Obst anbaute. Das Wasser für Garten und Familie schöpfte er aus einer Lache in einem zwei Meter tiefen Loch. Die Pflanzen im Garten sahen kümmerlich aus, er meinte, er hätte zu wenig Wasser, mit einem Brunnen könne er daraus mehr machen. In der Stadt fand ich jemanden, der am nächsten Morgen ein paar Fachleute schickte, die am selben Tag bereits den Brunnen mit Handpumpe und Zementeinfassung fertigstellten. 25 Meter tief, 100 Dollar reichten dafür aus. Rons hochschwangere Mutter war besonders dankbar. Sie würde bald Milchpulver im abgekochten Wasser für ihr Neugeborenes anmachen. Das Wasser, dass sie zuvor aus der Pfütze schöpften, sah ironischerweise auch wie Milch aus, trübweiß. Rons jüngster Bruder konnte mit drei Jahren noch nicht laufen. Er hatte zuwenig Nährstoffe bekommen, seine Muskulatur war schwach. Er kroch auf allen Vieren, hatte aber niemals Scheu vor mir.
Ich beschloss, Ron zur Schule zu schicken, denn sie kam mir recht intelligent vor. Zwar konnte ich leicht einsehen, dass die Kinderarbeit, die rund um die Tempelruinen durch den Verkauf von Andenken verrichtet wurde, bitter nötig war, um die Familien durchzubringen. Kinder erzielten einfach mehr Gewinn, Touristen konnten ihnen schlechter etwas abschlagen als den Eltern. Besonders den charmanten und hübschen Mädchen nicht, die den Jungen geschäftlich leicht den Rang abliefen. Rons Eltern unterstützten meine Idee, meinten jedoch, es seien zwei Schuluniformen und Schulgeld nötig, am besten auch ein Fahrrad. Die Last, die Ron mit ihren T-Shirts und Schals jeden Tag den Touristen in glühender Hitze hinterhertrug, war groß und vielleicht verantwortlich für einen leichten Gehfehler, den ich an ihr bemerkte. Wir suchten auf dem Markt in Siem Reap die passenden Uniformen aus und stellten uns in der besseren der beiden nahegelegenen Schulen vor. Der Lehrer forderte hinter meinem Rücken ein überhöhtes Schulgeld; als ich Ron zur Rede stellte, gestand sie das ein. Am nächsten Tag erfuhr der Lehrer davon und knallte ihr eine. Ich lobte sie für ihre Ehrlichkeit und brachte sie in die andere Schule. Ähnliches ereignete sich einmal in der Stadt, als ich ein Wörterbuch für mich kaufen wollte. Rain hatte stets seinen Vorteil gesucht, wenn ich mit ihm Besorgungen machte. Er brachte mich nur zu Händlern, von denen er Provision bekam. Ich zahlte jedes Mal mehr als nötig, sei es für Bleistifte oder Musikkassetten. Ich war mir längst sicher, nach Kambodscha zurückzukehren, vielleicht sogar einmal dort einen großen Teil des Jahres zu verbringen. Also sagte ich ihm, dass ich nun kein Tourist mehr sei. Ich hätte die üblichen Zuschläge lange genug hingeblättert und müsse nun lernen, was die wahren Preise seien, wie sie auch Einheimische zahlten. Rain weigerte sich beharrlich, mich darüber aufzuklären, bis mir der Kragen platzte und ich mir entnervt einen anderen Fahrer nahm. Ron dagegen nannte mir im Beisein der Verkäuferin den angemessenen Preis des Wörterbuchs. Ich hatte sie damit geködert, dass ich ein bestimmtes Budget ausgeben könne und alles, was davon übrigbliebe, ihr gehöre. So handelte sie zu meinen und letztlich ihren Gunsten, ich erfuhr (annähernd) die angemessenen Preise und – die Verkäuferin fuhr aus der Haut. Sie schimpfte so lange auf das Kind ein, bis ich Ron wegzog und sie wiederum für ihren Mut lobte.
Mein neuer Fahrer, Mister Ti, wurde mein angenehmster. Er redete wenig, fuhr bedächtig und gab freimütig zu, wenn er einmal unaufmerksam einem anderen Moped zu nahe kam. Völlig uneitel wurde der frühere Soldat zu einem verlässlichen Begleiter. Leider war er zwei Jahre später an einer ungeklärten Krankheit gestorben. Zuvor hatte er sich noch etliche Tabletten gekauft, so hörte ich. Das machen viele Südostasiaten, wenn sie sich keinen Arzt für eine genaue Diagnose leisten können. Sie gehen in die Apotheke, beschreiben ihr Problem und kaufen möglichst viel und starke Medizin dagegen. Daraus resultieren die hohen Antibiotika-Resistenzen in diesen Ländern. Dennoch war ich auch mit Rain noch einmal unterwegs. In den Abendstunden besuchte er seine Freundin, die Frau, die er heiraten wollte. Sie wohnte in einem Dorf nahe Sra Srang, in einem besserem Holzhaus mit mehreren Zimmern und einem TV-Gerät, das von einer Autobatterie Energie bezog. Viele Dorfbewohner versammelten sich dort, um fern zu sehen. In manchen Häusern wurde dafür eine kleine Gebühr verlangt, hier nicht. Rain hatte sich von meiner Fürsprache ein Entgegenkommen der Familie bezüglich des in Kambodscha üblichen Brautpreises erhofft. Eintausend Dollar schwebten den Eltern seiner Angebeteten vor, Rain wollte auf fünfhundert herunterkommen und sich von mir Geld leihen. Ich lehnte mit der Begründung ab, ich sei ja selbst noch nicht in festen Händen. Trotzdem berührte mich sein Vertrauen in meine Vermittlerrolle, in der ich allerdings scheitern musste. Der Brautpreis wird nicht immer bar entrichtet, manchmal den Eltern ein größeres oder neues Haus gebaut, ein Moped gekauft oder Goldschmuck. Die Hochzeitsfeier ist teuer, zu der das halbe Dorf kommt und verköstigt werden muss; Geldgeschenke der Gäste machen das häufig wieder wett. Hat man nur arme Freunde, geht die Rechnung manches Mal nicht auf.
sehr interressant und schoen zu lesen, hoffentlich wird noch mehr berichtet!
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