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Dôgens EIHEI KOROKU (IX):
Die Selbsttötung des Chuan-tzu

Die folgende Geschichte gibt uns einen Hinweis darauf, dass ein Erwachter in Sachen Selbsttötung frei ist (und sich nicht, wie ein christlicher Fundamentalist, sklavisch an ein Gebot des Nicht-Tötens halten muss).

       Wisst ihr nicht, dass den Zen-Meister Chia-shan, als er Obermönch in Ching-kou war, auf dem Weg in die Vortragshalle ein Mönch fragte: ‚Was ist der dharmakâya?‘ – ‚Er hat keine Form.‘ – ‚Was ist das Dharma-Auge?‘ – ‚Es hat keinen Makel.‘ Als er dies hörte, brach Tao-wu in Gelächter aus. Chia-shan stieg von seinem Sitz herab und richtete seine Kleidung. Dann warf er sich nieder und fragte Tao-wu[1] nach dem Grund. Tao-wu erwiderte: ‚Ich habe einen Bruderschüler, der andere in einem Boot auf dem Fluss Hua-ting belehrt. Wenn du ihm begegnetest, würdest du es sicher verwirklichen. Du solltest deine Kleidung besser gegen die eines schriftkundigen Lehrers tauschen.‘ Chia-shan nahm diesen Rat an, löste die Mönchsversammlung auf und begab sich wegen des besagten Chuan-tzu zum Hua-ting. Als Chuan-tzu ihn sah, sagte er: ‚Lehrer! Aus welchem Tempel kommst du?‘ – ‚Ich bin in keinem Tempel. Sonst würde ich nicht so aussehen.‘ – ‚Wie siehst du denn aus?‘ – ‚Ich bin jenseits von Sehen, Hören und Bewusstsein.‘ – ‚Wo hast du das gelernt?‘ – ‚Jenseits von Hören und Sehen.‘ – ‚Selbst ein Wort über die letztgültige Wirklichkeit würde seine Freiheit für immer verlieren, wenn wir daran hafteten. Eine tausend Fuß lange Angelleine auszuwerfen bedeutet, einen Fisch mit goldenen Schuppen in der Tiefsee zu suchen. Warum sagst du nicht etwas, was ein paar Zentimeter neben dem Angelhaken liegt?‘ Chia-shan wollte gerade seinen Mund öffnen, als ihn Chuan-tzu ins Wasser stieß. Chia-shan war kaum wieder im Trockenen, da rief Chuan-tzu: ‚Sprich! Sprich!‘ Chia-shan wollte gerade loslegen, da stieß ihn Chuan-tzu erneut ins Wasser. Da erlebte Chia-shan plötzlich große Erleuchtung. Er verneigte sich drei Mal. Chuan-tzu sagte: ‚Nun bewegst du die Leine an der Angelrute. Dass sie in stillem Wasser keine Wellen erzeugt, ist sehr tiefgründig.‘ – ‚Wofür hast du Leine und Haken fortgeworfen?‘ – ‚Um einen grünen Schwimmer an der Leine zu befestigen und herauszufinden, ob es einen Fisch mit goldenen Schuppen gibt oder nicht. Wenn du dies verstehst, sag es mir schnell! Sprich schnell!‘ – ‚Worte sind wundersam und unaussprechlich. Unsere Zunge rollt, bringt aber keine Worte hervor.‘ – ‚Du kannst solch einen Fisch erst sehen, wenn du die Ozeanwelle (der Täuschung) aufgefischt hast.‘ Schließlich bedeckte Chia-shan seine Ohren. Da sagte Chuan-tzu: ‚Recht so! Recht so!‘ Er übertrug Chia-shan den Dharma und sprach: ‚Ich blieb dreißig Jahre auf dem Berg Yüeh-shan, um dies zu klären. Da du es nun erfasst hast, darfst du nicht in einer Burgstadt oder gewöhnlichen menschlichen Behausung leben, sondern solltest bald deine Spuren verwischen. Du musst dich in eine Bergklause und auf Ackerland begeben, einen oder auch nur einen halben Mann anleiten und zur Essenz des Dharma durchdringen, damit sie nie vergessen werde.‘ Chia-shan verstand, verbeugte sich dankbar, kehrte zum Ufer zurück und nahm seinen Abschied, nicht ohne immer wieder zurückzuschauen. Da rief ihn Chuan-tzu: ‚Abt!‘ Als Chia-shan sich erneut umdrehte, hob Chuan-tzu ein Ruder hoch und sagte: ‚Hast du noch etwas (zu sagen)?‘ Dann warf er sein Boot um und versank im Wasser.


[1]   769–835, Dharma-Erbe von Yüeh-shan Wei-yen.

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