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Angkor 1999 (I)

Mein Visum für Thailand lief aus. Ich musste kurz aus dem Land heraus, um bei der Einreise ein neues zu bekommen. Darum flog ich nach Phnom Penh. Meinen Kambodscha-Reiseführer hatte ich vergessen, also schloss ich mich einem älteren Pärchen aus Neuseeland an, das ich beim Geldumtausch am Flughafen kennenlernte. Wir bestiegen ein Taxi und steuerten N.s Gästehaus an, eine typische Backpacker-Absteige, eigentlich das, was ich sonst meide, wegen des unvermeidlichen Geschwätzes und der Kifferei der Jugendlichen, die man dort regelmäßig antrifft. Man musste sein Zimmer mit einem Vorhängeschloss verriegeln, vor dem mehrstöckigen Haus warteten bereits aufdringliche Mopedfahrer, um einem die wichtigsten Ausflugsziele aufzudrängen. „Killing Fields, Mister?“, meinte einer, „I am policeman, you safe with me.“ – „Oh, fine, I am policeman myself, so you safe with me, too“, log ich radebrechend und stapfte zu Fuss einmal ums Karree, um mich später in der Nacht besser orientieren zu können. Mit dem Besuch des Königspalastes und des Nationalmuseums war der erste Tag ausgefüllt. Im Palast und seiner berühmten Silberpagode sprach eine Führerin wehmütig von den verstorbenen Kindern König Sihanouks, denen man dort Grabstätten errichtet hat. Manchmal, so sagte sie, könne man den König über den Palasthof streifen sehen.
   Beim Nationalmuseum angekommen beobachtete ich, wie ein Mopedfahrer im Vorbeibrausen blitzschnell einer Frau in ihre Umhängetasche griff und ihre Geldbörse entwendete. Von weitem machten Angestellte des Museums, die den Vorgang ebenfalls registriert hatten, die überraschte Frau, die gar nichts bemerkte, lauthals auf den Diebstahl aufmerksam und riefen nach der Polizei. Ich setzte mich ins Café eines Franzosen und fragte ihn, ob so etwas an der Tagesordnung sei. Er hätte noch nie solches gesehen, meinte er, und er sei schließlich schon seit fünf Jahren in Phnom Penh. Als ich am Abend im Gästehaus in geselliger Runde einen Banana-Shake trank, berichteten einige amerikanische Studenten sichtlich erregt, dass zwei andere Gäste bei Einbruch der Dunkelheit überfallen worden waren. Ein Motorrad hatte neben ihnen angehalten, einem Touristen wurde eine Knarre an den Kopf gedrückt, beide um ihr Geld erleichtert. N., der Besitzer des Gästehauses, schlug vor, nachts nur in Gruppen auszugehen. Später las ich in der englischsprachigen Phnom Penh Post die Polizeiberichte. Fast jeden Tag kamen auf ähnliche Art Menschen zu Tode. Sie wurden von Räubern erschossen, weil sie ihre Goldketten, ihr Geld oder ihr Motorrad nicht herausgeben wollten. Die Waffen der Gangster waren also geladen. Überhaupt schien das Leben in Phnom Penh recht explosiv zu sein. Einen Journalisten hatte es zerrissen, nachdem sein Taxifahrer mal kurz auf dem Markt verschwunden und mit einem Paket zurückgekommen war. Ein paar Minuten danach explodierte das Paket. Der Fahrer hatte sich eine Mine gekauft, und sie war während der Fahrt hochgegangen.
   Ich philosophierte laut vor mich hin, dass es nicht meine Art sei, einfach mein Geld herauszugeben, dass ich aber auch keinen Ärger wolle. Ob es nicht friedlichere Plätzchen in Kambodscha gäbe? Am nächsten Tag schlug mir N. vor, mit meinen Freunden (für die er das ältere Pärchen hielt, mit denen ich angekommen war) per Speedboat Richtung Siem Reap zu fahren, um mir dort die Ruinen von Angkor anzuschauen.
   Ein Tag blieb für einen Bummel durch die langgezogenen Alleen von Phnom Penh, Kambodschas Hauptstadt, die ein Erbe der Franzosen sind, für Besuche in den wichtigsten Tempeln und ihren weltlichen Kontrast: den obligatorischen Ausflug zum Schießstand. Ich fuhr mit einer Gruppe junger Amerikaner dorthin, die wirklich jede herumliegende Waffe ausprobieren wollten. Mir genügte die A-47, weil man mit Maschinengewehren auf Schießständen in Deutschland nicht üben darf. Die einzige Frau, die dabei war, konnte es nicht lassen, sogar Handgranaten in einen Teich zu werfen. Allerdings traf sie nicht und riss große Löcher in die umliegende Erde. Kleine Kinder, die in armseligen Hütten nahe dem Schießstand wohnten, sammelten die leeren Patronenhülsen von uns Touristen ein, weil sie dafür etwas Geld bekommen konnten. Wir waren die einzigen, die Gehörschutz trugen.
   Am nächsten Morgen fuhren wir nach Siem Reap. Die russischen Schnellboote, die auf dem Tonle Sap bis nahe Siem Reap verkehren, haben nicht den besten Ruf. Schon manches Mal sind sie abgesoffen. Zum Glück war der Wasserstand dann meist niedrig. Bilder von Touristen, die auf den Dächern der unter die Wasseroberfläche gesunkenen Boote auf Rettung durch Fischerbarken warten, sind keine Seltenheit. Irgendwo auf dem Fluss wurden wir angehalten, Soldaten kamen an Bord und kassierten offenbar ein Schutzgeld vom Bootsführer. Kurz danach wurde der Fluss Tonle Sap zu einem großen See gleichen Namens. Ausgerechnet da, wo die wenigsten Fischerboote auf dem See dümpelten, wären wir fast mit einem kleinen motorisierten Kahn kollidiert. Showeinlage oder Toilettenpause des Kapitäns?
   Am Ziel wurden wir erwartet. Der Fahrer eines Gästehauses, dessen Name ich nun verschweige, weil es später noch Ärger mit ihm gab, brachte uns im klimatisierten Minibus auf einer knapp halbstündigen Fahrt in die Kleinstadt Siem Reap. Die Zimmer waren schlicht, fünf Dollar pro Nacht ohne Fernseher und Deckenventilator – was in Thailand zu diesem Preis Standard wäre –, die Speisekarte sehr vielfältig und mit zahlreichen europäischen Speisen lockend. Schon wieder Backpacker. Immerhin, ich freundete mich schnell mit Tom aus England an, der früher Manager war und nun, um die fünfzig Jahre alt, mit seiner CD-Sammlung im Gepäck die ganze Welt bereiste. Vollbärtig, anspruchslos und mit streng limitiertem Budget war ihm ein gutes Bier am Abend das Wichtigste. Das gab‘s offenbar in Laos besonders preiswert, wo ihn das beschauliche Leben in den Bann gezogen hatte. Wir sollten noch jahrelang per email Kontakt halten. Er hatte sich etwas unglücklich in Vietnam verliebt und träumte von einem eigenen Gästehaus in Laos. Von wo auch immer er mir schrieb, ich bekam nie das Gefühl, dass es irgendwo interessanter sein könnte als in Südostasien.
   Am nächsten Morgen wollten wir uns den angeblich unvergleichlichen Sonnenaufgang in Angkor Wat anschauen, dem Hauptmonument aus dem alten Khmer-Reich, das zwischen dem neunten und dreizehnten Jahrhundert seine Blütezeit erlebte. Freilich tauchten Wolken auf und ich fragte mich, in welchem Land man nicht versuchte, Touristen einen Sonnenaufgang schmackhaft zu machen. Glaubte man, dass wir Europäer in unseren Heimatländern morgens nicht aus dem Bett kommen? Mein Mopedfahrer stellte sich namentlich vor: „Rain. Like the rain.“ Und deutete zum Himmel. Bald stellte ich fest, dass sein Englisch sehr rudimentär war. Er besuchte eine Schule nahe dem Gästehaus, wie so viele Fahrer, die hofften, einmal als Tourguide arbeiten und gut verdienen zu können. Wenn ich als studierter Amerikanist den selbsternannten Lehrern lauschte, ersetzte das die Harald Schmidt Show. Es war einfach zu komisch, wie penetrant falsch und systemlos viele von ihnen unterrichteten. Tom kaufte Rain ein gutes Wörterbuch. Ich lud ihn regelmäßig zum Essen ein, aber als er mich einmal mit in die Hütte seiner kranken Mutter genommen hatte, wurde mir klar, dass ich besser daran täte, ihm neben den sechs Dollar, die er pro Tag für seine Fahrdienste verlangte, etwas Geld zu geben. Denn das Essen, das ich im Gästehaus zu mir nahm, wäre ihm selbst zu teuer. Mit dem Trinkgeld konnte er aber eine ganze Woche woanders essen gehen. Viele Kambodschaner kommen mit ein bis zwei Dollar pro Tag aus. Den Fahrern geht es da schon besser, vor allem, wenn ihnen das Moped gehört und sie nichts vom Verdienst an einen anderen Besitzer abgeben müssen. Tourguides bekommen etwa 20 Dollar pro Tag, je nach Sprache. Wer Japanisch kann, erhält mehr. Wer Deutsch spricht, am meisten.
    Wir klapperten in den folgenden Wochen die Tempelruinen im weitläufigen Komplex von Angkor ab. Kaum dass ich einen Ort betreten hatte, folgten mir Kinder. Wind zufächelnd, schweigend, Informationen nachplappernd, die sie den professionelleren Guides abgelauscht hatten. Ich testete einen, Joy, stellte mich vor ein Hinweisschild, das die Geschichte des danebenliegenden Tempels umriss. Dann fragte ich ihn gezielt nach gerade angelesenen Details. Er wusste alles, also bot ich ihm an, in den folgenden Tagen mein Guide zu sein. Bald ging ihm der Stoff aus und er wiederholte sich, auf die immer gleichen Details auf den Reliefs hindeutend. Eines Abends erzählte er von einem Sportereignis, das er sich gerne anschauen würde. Ich meinte, wir müssten seiner Mutter Bescheid geben, doch er sagte, die wäre es gewohnt, dass er wegbliebe.

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