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Das Corona-Testament

 [Dieser Text ist jetzt knapp ein Jahr alt. Ich könnte ihn heute nicht mehr so schreiben. Im Nachhinein finde ich das witzig.]

                                                            

Weihnachten 2019 kehrte ich aus Thailand, wo ich die meiste Zeit des Jahres lebe, für sechs Wochen nach Deutschland zurück. Wie üblich wohnte ich in dieser Zeit bei meiner Mutter, und wie üblich wurde ich kurz nach meiner Ankunft krank. In den Jahren davor hatten mich ein hartnäckiger Husten sowie eine fast eintägige Unfähigkeit zu pinkeln lahmgelegt und in mir den Verdacht aufkommen lassen, dass Flugzeuge zu den größten Bakterien- und Virenschleudern überhaupt gehören mussten. Dann gab es da noch diese Prostatitis, die mich alle zehn Minuten aufs Klo schlurfen ließ, ohne dass dann etwas Bemerkenswertes meinen Körper verließ; sie hatte ich mir allerdings schon kurz vor einer Rückreise eingefangen und mich darum drei Tage lang jeden Morgen im Krankenhaus mit Infusionen für meinen Flug fit spritzen lassen. Am Flughafen bekam ich damals zum ersten Mal in meinem Leben trotz frühem Check-in keinen Platz am Gang mehr, inzwischen musste man diesen vorab buchen. Neben mir saß eine Frau, die verzweifelt versuchte, ihre Beine auf ihrem schmalen Platz zu verklemmen, um eine angenehme Schlafposition zu finden. Ich sagte ihr, dass ich bestimmt jede halbe Stunde wegen einer Infektion aufs Klo müsse, und ob sie vielleicht mit mir tauschen wolle, um ihre Ruhe zu haben. Sie stimmte sofort zu, wir tauschten die Plätze und ein paar Mal ruhte ihr Kopf an meinem Arm. Ich überließ ihr auch die Mittellehne rechts von mir, wie man es laut dem Komiker Jim Jefferies zum Ausgleich für mehr Beinfreiheit am Gang unbedingt zu tun habe.

Nun also, an Weihnachten 2019, begann der trockene Husten. Ich fühlte mich einen Tag lang recht schwach. „Was hast du denn wieder mitgebracht?“, fragte meine Mutter. Eine Woche später war sie selbst krank. „Das kann ich ja gar nicht gebrauchen. Der Husten fährt mir in den Rücken.“ Bei jedem Anfall schmerzte sie ein eingeklemmter Nerv. „Ist das nicht komisch“, meinte ich, „dass es mit Husten anfängt und nicht mit Schnupfen oder Halsschmerzen? Und dass es bei mir so schnell vorbei war? Mit meinem Asthma hätte ich allerdings auch gern auf den Husten verzichtet, zwei Mal habe ich Sternchen gesehen und gedacht, ich falle in Ohnmacht, so ist mir die Luft weggeblieben.“ Meine Mutter war den Husten nach knapp einer Woche los.

Anfang Februar ging es nach Thailand zurück. Was dann die Welt bewegte, wissen wir alle. Ich fragte mich, ob ich vielleicht immun sei, denn die Symptome von Weihnachten passten ganz gut zu Corona. Da es mir nun aber besser ging, testete mich niemand und ich hätte 200 Euro selbst dafür bezahlen müssen. Also praktizierte auch ich social distancing. Am 25. März hieß es, es gäbe eine Ausgangssperre, der Notstand würde erklärt. Ich deckte mich mit Nudeln, Soßen, Reis, Weetabix, Sojamilch inklusive aller möglichen zugesetzten Vitamine und Aminosäuren, Wasser, Eiern, Joghurt und Fischkonserven ein, so dass ich einen Monat nicht das Zimmer hätte verlassen müssen. In Jordanien zum Beispiel hatten sie schon die totale Ausgangssperre eingeführt, und man musste das Essen direkt beim Militär bestellen. Am 26. März hieß es dann, die Ausgangssperre gelte in Thailand nur nachts.

Meine Mutter hatte von dem Notstands-Dekret im Fernsehen mitbekommen und rief an. Wäre es nicht besser, zurückzukommen? Ich rechnete ihr vor, dass Thailand zwar wohl nur ein Dreißigstel der deutschen Beatmungsgeräte für die schwersten Fälle hätte, aber momentan anteilig auch nur ein Dreißigstel der Infizierten und Toten, die aus Deutschland vermeldet wurden. Ein Rückflug kostete inzwischen außerdem 3.000 Euro anstatt der üblichen 1.000. Schließlich, so sagte ich, sei es doch egal, wo man sich isoliere, und in meinem Zimmer in Thailand wäre es sogar strikter, als wenn ich wieder vorübergehend bei ihr wohnen würde. Inzwischen hatten die Thais, die kaum Klopapier brauchen, weil sie Analduschen benutzen, und die auch keine Kriegstraumata mit sich herumschleppen, Desinfektionsmittel, Masken und Fertigsuppen, die uns Ausländern eh zu scharf und zu nährwertarm waren, gehamstert. Andere Engpässe waren zunächst nicht zu erkennen. Masken wurden bald schon hier und da von pfiffigen Menschen selbst angefertigt, ein profitables Geschäft.

Wie andere fing ich an zu spekulieren, was eine vielleicht monatelange Isolierung mit mir machen könnte und welche Vorteile sie womöglich hätte. Als Schreiber bin ich es ja gewohnt, viel daheim zu sein, und die Erschöpfung nach einem ganzen oder auch nur halben Tag vor dem Notebook-Bildschirm, den es mit sinnvollen Worten zu füllen gilt, ist doch tatsächlich so groß, dass ich abends nichts anderes mache als bei Netflix oder in Mediatheken nach Unterhaltung oder Wissenswertem zu stöbern, das eher leicht verdaulich ist. Zunächst änderte sich daran nicht viel. Die Zeit, die täglich für das Aufsaugen von Corona-News draufging, hatte ich ja übrig, weil ich niemanden mehr traf.

Beim morgendlichen Schwimmen auf dem Dach des Condotels, in dem ich mein Zimmer gemietet hatte, kam ein Hustenreiz auf. Durch die Corona-Angst war nun das Sensorium auf mögliche Krankheitssymptome geschärft, und prompt ertappte ich mich dabei, anders über ein ansonsten beinahe alltägliches Handicap nachzudenken: Asthma bei Anstrengung. Im Badezimmer leuchtete ich von nun an regelmäßig in meinen Rachen, der dummerweise ständig gerötet aussah. Was sollte ich davon nur halten? Ich gurgelte mit Listerine, das machten die Japaner laut Youtube gern, und ich ahmte sie nach.

Als ich mich so in meinem Zimmer umschaute, war mir klar, dass im Falle einer plötzlichen Erkrankung keine Zeit mehr bleiben könnte, meinen geringen Nachlass zu regeln. Mir fiel sofort meine arme Freundin vom Land ein, für deren Kinder ich einst Babysitter war und zeitweise ein Ersatzpapi, weil sie sonst keinen hatten. Im Todesfall würden womöglich die Putzfrauen meine Sachen unter sich aufteilen, denn extra für ein paar Habseligkeiten nach Thailand zu fliegen lohnte sich für meine Verwandten nicht. Ich setzte also ein Schreiben auf, in dem ich den Condotel-Besitzer bat, meine Dinge teils an meinen Bruder zu senden und  teils der armen Freundin zukommen zu lassen. Für die Kosten würde meine hinterlegte Mietkaution reichen. Den Rest sollte die Belegschaft des Condotels bekommen und bitte meine Bücher und Sprachkurse in die Stadtbibliothek bringen.

Beim Korrekturlesen dieses kleinen Testamentes fiel mir das Wort „pathetic“ ein, das im Deutschen pathetisch heißt. Ich hatte mich schon früher gefragt, ob es in amerikanischen Filmen und Fernsehserien nicht eher vorwurfsvoll im Sinne von „erbärmlich“ gebraucht wird, und nicht in der milderen Deutung als „übermäßig gefühlvoll“. Obwohl mir meine Verteilerliste so sinnvoll vorkam wie eine Patientenverfügung, hatte ich nun diesen übertrieben gefühlvollen Eindruck der Erbärmlichkeit. Dabei war mir klar, dass im Falle eines röchelnden Todes mir nichts so bedeutungslos vorkommen dürfte wie mein Besitz und wer ihn sich unter den Nagel risse. Oder war es gar die Erbärmlichkeit des Besitzes, die mich beschäftigte? Nein, es musste die Unfähigkeit sein, einfach sterben zu können, ohne ein großes Tamtam daraus zu machen.

Für den Fall der Fälle googelte ich freilich nach einer Weltkarte, die Aufschluss über die Beatmungsgeräte aller Länder dieser Welt gab, wurde aber nicht fündig. Ich hätte sonst die Anzahl der Infizierten damit in ein mathematisches Verhältnis gesetzt und mir ausgerechnet, wo es die besten Überlebenschancen gäbe, und dann gecheckt, ob vielleicht noch die Einreise wenigstens mit nachfolgender Quarantäne gestattet wäre.

Am nächsten Morgen beschloss ich beim Schwimmen, mir die Option offenzuhalten, das Corona-Virus zu ignorieren wie bisher das Grippevirus. So könnte ich gar noch ein Kind zeugen, das dann Li oder Guiseppe hieße.

 

Kommentare

  1. Den Tod herbeigeführt durch Erstickung ist sicher sehr qualvoll. Von daher wäre es wohl wichtiger genug Sauerstoffflaschen bei sich zu Hause zu haben als ein Beatmungsgerät oder ist das für dich das selbe?
    Der grosse Tod-sterben und der kleine Tod-orgasmus=Leben erzeugung, bezeugen ist der immer wieder kehrende Kreislauf.

    Gruss

    Patrick

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