Wie letzte Woche (auch im Kommentar) angekündigt, möchte ich den Unterschied zwischen einer beschränkten buddhistischen Ethik - und dem Gefangensein mancher Buddhisten darin - zu einer tieferen moralischen Grundhaltung, wie sie meines Erachtens aus tatsächlicher Erkenntnis ("Erwachen") entspringt, weiter verdeutlichen. Letzte Woche wies ich schon darauf hin, dass man sogar hermeneutisch, also durch Interpretation von Texten und Tradition, in der Lage ist, fundamentalistische Deuter zu wiederlegen, die aus dem Dharma ableiten, weder der Organspende noch der Sterbehilfe oder dem selbstbestimmten Suizid zustimmen zu können. Ich denke, dass damit schon angedeutet wurde, wie eine weiter gefasstere, empatherische buddhistische Ethik aussehen könnte, als sie viele Dogmatiker, die auch im Internet die Mehrheit zu stellen scheinen, vertreten.
Heute dient mir ein Beitrag Brad Warners über "Erleuchtung und Jungfräulichkeit" als Ausgangspunkt. Vorausgeschickt werden muss, dass Brad Warner auf die übliche Art vieler Dôgen-Anhänger das Thema Erleuchtung normalerweise herunterspielt. Auf der anderen Seite hat er sich so deutlich über speziell ein Erlebnis ausgelassen, das die Kriterien eines solchen Erwachens erfüllt (dazu übernächste Woche demnächst mehr aus wissenschaftlicher Sicht), dass wir behaupten können, Brad hielte sich für erwacht. Dazu kommt, dass er Wert darauf legt, ein von einem japanischen Zenmeister authorisierter Mönch zu sein. Dabei würde ihn wohl kaum jemand als Dogmatiker bezeichnen, sondern eher als Punkt oder Zenhippie.
Im genannten Beitrag vergleicht Brad in einem für mich recht schiefen Bild die Erleuchtungserfahrung mit dem Verlust der Jungfräulichkeit: Sie sei einmalig, man würde damit eine Grenze überschreiten und es sei danach nichts mehr wie zuvor. Das Bild ist deshalb schief, weil sich hinter Brads Vorstellung vom ersten Sex bloß eine reichlich konservative, typisch US-amerikanische Sexualprüderie verbirgt, nach der der erste Geschlechtsverkehr eine solche Bedeutung haben solle (die er sexualwissenschaftlich betrachtet gar nicht hat). Doch der entscheidende Punkt ist ein anderer.
Brad betont zurecht, dass das Erwachen nicht ein Abstellen und Verschwinden der eigenen Neurosen und Fehlverhalten zur Folge hat, sondern eine Einsicht darin, welche Konsequenzen sich aus dem eigenen Verhalten ergeben, das also nun bewusst in einem größeren Zusammenhang wahrgenommen würde. Allerdings würde man sich weiterhin falsch verhalten und Schlechtes tun können. (Auf das Argument, dass man alles Schlechte, was man anderen zufüge, sich selbst zufüge, komme ich in einem weiteren Blogbeitrag zurück, da es sich auch hier um eine typisch buddhistische Vereinfachung handelt, die so nicht stimmt. Ich werde das an konkreten Beispielen aufzeigen.)
Und wie sieht die Lösung dafür aus? Tata! "This is where the precepts come in." Hier kommen also nun die Regeln/Gebote (jukai) ins Spiel! Es ist ein Standargargument gerade der Sôtô-Fraktion (wie natürlich auch der Theravadin), dass sogar nach dem Erwachen stets eine Korrektur durch das Besinnen auf die buddhistischen Gebote nötig sei. Dieses Argument ist aus Zen-Sicht falsch, wie man hier im Blog anhand zahlreicher Zitate aus der Tradition erkennen kann. Es handelt sich hier um eine Auffassung des Dreiklangs von Regeln, Versenkung und Weisheit, wie sie typischerweise vor dem Erwachen auftritt, aber von fortgeschrittenen Lehrern immer wieder mit dem Hinweis auf die Priorität der Weisheit (aus erwachter Sicht) und der Freiheit von allen Dogmen konterkariert wurde.
Grotesk wird diese Argumentation aber nicht nur wegen der Unkenntnis jener Zentradition, sondern vor allem, wenn man sich das Verhalten ihrer Verkünder genauer ansieht. In buddhistischen Foren und Zirkeln sind das regelmäßig solche Menschen, die ihre moralischen Defizite wie auf einem Tablett vor sich hertragen, z. B. durch Ausgrenzungswünsche, ad personam-Angriffe, Lüge in Form von Verschleierung. Irgendwie scheint die von ihnen empfohlene Methode, sich ständig an den Geboten zu orientieren, bei ihnen selbst zumindest nicht viel zu fruchten.
Und das ist bei Brad Warner nicht anders. Wenn wir uns an die Diskussion zu den Sexskandalen um Sasaki und Shimano erinnern, so meinte Brad einmal flapsig, man würde doch heucheln, wenn man erwarte, dass ein Lehrer sich nicht sexuell für eine Schülerin interessieren könne. Und tatsächlich hat Brad selbst ja offenbar eine seiner Schülerinnen zur Partnerin gehabt. Das ist für mich keineswegs unverständlich, und die leichte Nachvollziehbarkeit von Brads Einwürfen macht ja einen Teil seiner Popularität aus. Doch was bedeutet es im Hinblick darauf, wie die Regeln zu verstehen und umzusetzen seien? Es ist die gleiche Frage, die ich schon letzte Woche aufwarf: Ist es nicht moralisch wertvoller, wenn keine Beziehungen von Lehrern zu Schüler/innen zugelassen werden, solange sie in diesem Verhältnis zueinander stehen? Ist Brad hier nicht offensichtlich an den Regeln gescheitert, die er hier selbst verlinkt (und die ihm z. B. auch seine Kritik an anderen Buddhisten untersagt)? Kann er also nicht sozusagen am von ihm selbst herbeitzitierten Text widerlegt und seine Philosophie über den Haufen geworfen werden? Warum hält er dann daran fest, wenn er nach eigenen Aussagen anderer Ansicht ist (die Regel gegen sein Verhältnis zu einer Schülerin in dem Text der Dogen Sangha formuliert das als "Don't desire too much")?
Ich habe hier schon viele Beispiele von Lehrern genannt, die an diesen Regeln scheiterten, selbst wenn sie sie - wie TNH - umformulierten. Die Lehrer selbst dienen als Beispiele für den Unsinn, den sie lehren, weil sie ihn nicht praktizieren können. Möglicherweise versuchen sie, wie andere Menschen auch, rhetorisch geschickt das eigene Verhalten so hinzubiegen, dass es noch irgendwie im Einklang mit den Vorgaben zu stehen scheint. Doch zu diesem Zeitpunkt können wir bereits instinktiv erkannt haben, dass Organspende moralisch hochstehender ist als ihre Ablehnung, dass Beihilfe zum Suizid moralisch hochstehender sein kann als der Verweis auf ein Tötungsverbot - und dass eben auch der strikte Verzicht auf ein sexuelles Verhältnis zu seiner Zenschülerin das moralisch angemessenste Verhalten für einen Zenlehrer ist. Auch im letzteren Fall ist das übrigens in der original buddhistischen Regel nicht enthalten, die sich, wie ich schon oft betonte, vor allem gegen den Ehebruch wendet. Ich glaube also, dass wir besser beraten sind, wenn wir uns auf den gesunden Menschenverstand und unser Gefühl verlassen, statt auf Regeln zurückzugreifen, die teils moralisch unterentwickelt sind und dennoch von ihren Apologeten regelmäßig missachtet werden. Da ist zu viel Lärm um Nichts.
Guter Artikel-und ich bin auch der Meinung "dass wir besser beraten sind, wenn wir uns auf den gesunden Menschenverstand und unser Gefühl verlassen,".
AntwortenLöschenWir alle haben ein natürlich gegebenes Ge-Wissen. Folgen wir diesem sind wir auf dem natürlichen Weg.
Namaste!
AntwortenLöschenVielleicht sollte man, bei all der Ablehnung der Jukai hier auch darauf hinweise, dass zumindest bei der Annahme der Jukai, wie sie im Soto Kyokai Shushogi stehen, den Jukai die Dreifache Zufluchtnahme und drei höherstehende, grundlegende Gebote vorausgehen: "Tu nichts Böses", "Tu Gutes" und "Handle zum Wohle der Befreiung der Wesen".
Nach meinem Verständnis macht die Summe dieser 16 Gelübde dann ein sehr viel "runderes Bild" als sich allein auf das Für-und-Wider der Jukai zu beschränken.
Und gerade diese "Drei Grundlegenden Gelübde", die "Endon Bosatsu Kai", wie sie in der Tendai Shu genannt werden, gehen aus meiner Sicht dann auch sehr in Richtung "gesundem Menschenverstand".
< gassho >
Benkei