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Samadhi im frühen Chan
(Essay von Bernard Faure)

Ich fasse zusammen den Essay „The Concept of One-Practice Samadhi in Early Ch’an“ von Bernard Faure (aus: Studies in East Asian Buddhism 4, Honolulu 1986, S. 99-128). Wer sich für Feinheiten interessiert, kann wahrscheinlich auch Englisch und findet das Original über die Google-Suche. Ich habe das letzte Kapitel (III. „Über den Hintergrund der Sekten …“ zur Nord- und Südschule im achten Jhd. etc.) vernachlässigt. Als Motivation für die Vorstellung gerade dieses Essays könnte dieser Satz stehen:

This ambiguity is most clearly evident in the Leng-ch'ieh shih-tzu chi and its use of the one-practice samadhi—understood sometimes as one simple practice, but more often, or more fundamentally, as the one absolute or "sudden" practice, that is, no practice whatsoever, or pure spontaneity.”

„Diese Zweideutigkeit ist am offensichtlichsten im Leng-ch’ieh shih-tzu chi [Anm.: einem Werk, in dem Gunabadhra als der erste Chan-Patriarch gilt, nicht Bodhidharma] und seiner Verwendung des ‚Samadhi des Einsseins‘: Es wird manchmal als eine schlichte Praxis verstanden, doch häufiger, oder grundlegender, als die eine absolute oder ‚plötzliche‘ Praxis, das heißt, als überhaupt keine Praxis oder als reine Spontaneität.

Ein weiterer wichtiger Punkt, der gern auf dem Übungsweg in Abrede gestellt wird (wahrscheinlich auch zunehmend wegen Erkenntnissen der Hirnforschung), ist die Tatsache der völligen Gedankenfreiheit (also nicht nur der Abwesenheit „anhaftender“ Gedanken), wie weiter unten zitiert wird. Fürs frühe Chan lassen sich m. E. folgende Charakteristika aus diesem Essay herauskristallisieren:

die Freiheit von einer festgelegten Übungsmethode (inklusive des „Sitzens“);
die Möglichkeit der völligen Abwesenheit von Gedanken;
die Vorstellung der Nordschule (nach Shen-hsiu) als einer des „plötzlichen Erwachens“.

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In diesem Essay soll die Bedeutung von i-hsing san-mei geklärt werden, also des „Samadhi des Einsseins“ (nach Yampolsky); ich kürze es im Folgenden aufgrund von Faures Übersetzung „one-practice samadhi“ mit OPS ab. Für Faure scheint dieses „one-practice samadhi“ in der vorliegenden Arbeitshypothese nicht eine der vier Arten des Samadhi zu bezeichnen, von denen Chih-i sprach (siehe „Stopping and Seeing“ in der Übersetzung von Cleary), sondern eine Reaktion auf den Tientai-Buddhismus darzustellen, der ein ganzes Arsenal an Meditationstechniken oder upaya anbot.

1. Kanonische Quellen: Mit i-hsing san-mei wurde ekavyuha-samadhi (das eine überragende Samadhi) oder ekakara-samadhi aus dem Sanskrit übersetzt. In der Schrift Wen-shu shuo ching (Saptaśatika-prajñāpāramitā-sūtra) werden zwei Möglichkeiten genannt, dieses Samadhi zu erlangen: a) durch das Lesen eben dieses Sutras und das Praktizieren der Vervollkommnung der Weisheit, von der es handelt; b) durch Anrufen von Buddhas Namen (nien-fo), wobei man sich auf einen Buddha konzentriert, indem man dessen Namen anruft, ohne an seiner Form zu haften – so könne man alle Buddhas der Drei Zeitalter visualisieren. In der Reines-Land-Schule wurden diese Methoden als „Kontemplation des Prinzips“ (li-kuan) und „Kontemplation der Phänomene“ (shih-kuan) bezeichnet. Beide führten zur Erkenntnis des nicht-unterschiedenen Dharmadhatu  (der Welt der Phänomene, in der Leere und bedingtes Entstehen untrennbar sind).

2. Erste chinesische Deutungen: Nach obiger Definition verwies OPS noch auf eine metaphysische Einheit der Wahrheit, nicht auf eine methodische Einzigartigkeit der Übung. Im 6. Jhd. änderte sich dies mit Spekulationen über die Bedeutung von samatha-vipasyana (chih-kua), z. B. im Werk Chih-is, wo das Konzept von OPS mit  samatha-vipasyana verbunden und in einen Mahayana-Kontext eingebettet wurde. Mit dem Aufkommen der von Kumarajiva eingeführten Mahayana-Ideen und der Madhyamika-Schule der drei Abhandlungen (San-lun) wurde Weisheit (prajna) stärker gegenüber Konzentration/Versenkung (samadhi oder dhyana) hervorgehoben und vipasyana gegenüber samatha. Dies geschah in Südchina, während Nordchina weiterhin der traditionellen dhyana-Praxis anhing. Mit dem Adaptieren des OPS versuchte man nun, diese beiden Richtungen auszusöhnen.

Im „Sutra vom Erwecken des Glaubens“ (Ta-sheng ch'i-hsin lun) wurde die Praxis von samatha als „samadhi der Soheit“ (chen-ju san-mei) bezeichnet und eben als OPS. Dadurch gelangte es von einer körperlichen auf eine metaphysische Ebene und wurde zur Kontemplation des Prinzips. Im Hinayana hatte samatha einfach Konzentration auf ein Objekt bedeutet, etwa auf den Körper oder den Atem. In diesem Sutra aber ist der Dharma-Körper (dhamakaya) der Buddhas dem Körper der fühlenden Wesen gleich. Wer Soheit praktiziere, könne eine unendliche Zahl von samadhi erzeugen. Hier sei bereits das apophatische (unnennbare) Konzept der Leere (shunyata), wie es sich in den Weisheitssutren findet, als „quasi-substantielle Soheit“ angelegt.

In Chih-is Werk werden vier Arten von samadhi genannt: 1) ständiges Sitzen, 2) ständiges Gehen, 3) teils Gehen, teils Sitzen und 4) weder Gehen noch Sitzen. Für Chih-i bedeutet samadhi, den Geist auf einen Punkt auszurichten und ohne Ablenkung dort zu verweilen. Diese Definition entspricht zwar der im obigen Sutra, doch bei Chih-i ist OPS die erste von vier Arten von samadhi, also eine unter vielen (die im Übrigen auch mit dem Anrufen von Buddhas Namen einhergehen konnte). Dennoch wurde OPS infolge von Chih-is Schrift verkürzt mit Sitzmeditation (tso-ch’an) identifiziert und so vor allem in der Tientai-Schule verstanden, mehr noch als im Chan. Im Reines-Land-Buddhismus wurde es zur Anrufung von Buddhas Namen (nien-fo), die - nach Shan-tao - sogar von samadhi frei sein konnte, was zu einer Kritik des „Anstarrens des Geistes“ (k’anshin) bzw. der Sitzmeditation führte.

Beim vierten Chan-Patriarchen Tao-hsin ist nien-fo ein zweitrangiges, erlaubtes Mittel, das aber der Spontaneität entbehre. Tao-hsin weitet das samadhi des ständigen Sitzens (nach Chih-i) bereits auf alltägliche Handlungen aus, z. B. „das Anheben und Senken des Fußes“. Der fünfte Patriarch Hung-jen bezieht das „Sutra vom Erwecken des Glaubens“ stärker ein. In der Nordschule, also bei Shen-hsiu, bleibt das Wen-shu shuo ching maßgeblich. Für ihn ist „Geist-Kontemplation“ (kuan-hsin) die „eine Übung“, die alle anderen einschließt, und sie ist nicht ausdrücklich mit OPS verknüpft. Bei Shen-hsiu sind die beiden Aspekte des Geistes – der reine und der befleckte – assimiliert. Durch den Einfluss des Hua-yen auf die Nordschule wird das „one-practice samadhi“ (OPS) zu einem samadhi des „einen Zeichens“, d. h. die letzte Wirklichkeit ist frei von allen Zeichen: „Der Ausdruck Erwachen (chüeh) bedeutet, dass die Geist-Essenz (hsin-t’i) frei von Gedanken (li-nien) ist. Diese Lösung von Gedanken wird mit dem universellen Charakter des (Welt)Raumes verglichen. … Es handelt sich um ‚fundamentales Erwachen‘ (pen-chüeh).“

Im Plattform-Sutra wird OPS als geradliniger ("straightforward") Geist ohne Anhaftung in allen Lebenslagen angesehen. Dieser Geist sei nach dem Vimalakirti-Sutra der „Ort der Übung“ (tao-ch’ang, bohdimanda) und das Reine Land. Mit dieser Herleitung grenzt sich das Plattformsutra vom Wen-shu shuo ching und dem Einfluss des Tientai ab, ebenso wie vom „Sutra des Erweckens des Glaubens“. Shen-hui grenzt sich von Shen-hsiu (Nordschule) auch ab, indem er das Wen-shu shuo ching und das Lankavatara-Sutra durch das Diamantsutra und die Weisheitssutren ersetzt. Shen-huis Praxis sei durch Nicht-Handeln (wu-wei), Nicht-Absicht (wu-tso-i) und Nicht-Denken (wu-nien) gekennzeichnet: „Die Abwesenheit von Gedanken (wu-nien) ist die Vervollkommnung der Weisheit“ (und diese ist OPS). Allerdings gäbe es in den genannten Weisheitssutren ebenso wenig ein OPS wie im Vimalakirti-Sutra (die Quelle sei vielmehr das Leng-ch’ieh shih-tzu chi).

Tsung-mi übernimmt Shen-huis Kritik an der Nordschule, unterscheidet aber fünf Arten von dhyana: 1) heterodoxes dhyana, 2) das dhyana des gewöhnlichen Menschen, 3) Hinayana-dhyana, 4) Mahayana-dhyana, 5) das dhyana des Höchsten Fahrzeuges, von dem er sagt, es sei „plötzliches Erwachen zur Erkenntnis, dass der eigene Geist von Anfang an rein war und Befleckungen nie existierten“. Dies sei mit OPS identisch. Damit sei Tsung-mi aber Shen-hsius Interpretation des ursprünglich reinen Geistes als ontologische (metaphysische) Wirklichkeit näher.

3. Das Leng-ch’ieh shih-tzu chi von Ching-chüeh (683-750): Ching-chüeh studierte bei Shen-hsiu und Hui-an (von der „Ostbergschule“) und war Nachfolger von Hsüan-tse in der Lankavatara-Tradition. Er versuchte die Ostbergschule als Erbe dieser Lankavatara-Tradition zu präsentieren, die wohl von Gunabhadra und seinem „Schüler“ Bodhidharma initiiert worden sei. Das Leng-ch‘ieh … basiert auf der Theorie der gegenseitigen Durchdringung von Absolutem (li) und Phänomenen (shih), wie sie im Avatamsaka-Sutra dargelegt ist. In der Hua-yen-Schule wurde dies zu „eins ist alles“, wodurch eine Übung allen gleicht und damit andere Übungen überflüssig macht. Im Tientai galt „alles ist eins“, wodurch alle Übungen als gleichwertig angesehen wurden, da sie alle die gleiche Wahrheit ausdrückten; die Voraussetzung dafür ist das Befrieden des Geistes (an-hsin) oder OPS. Nach Chih-yen (602-668) ist OPS eine „durchdringende Kontemplation“ (t’ung-kuan).

Allmählich verlagerte sich die Gewichtung von einer Praxis (unter vielen) auf die eine (absolute) Praxis (und von daher auf: keine Praxis). Tao-hsin schrieb dazu: „Das Eine ist nicht die Zahl eins. Es impliziert eine Absage an Zahlen. Wer geringe Einsicht hat, der versteht dies jedoch als eine Einheit.“ Ching-chüeh sieht jede Praxis auf Grundlage der „plötzlichen“ Erkenntnis als „Nicht-Praxis“ (es gibt also keine besondere Praxis). Letztlich ist damit die Nordschule eine des plötzlichen, nicht des allmählichen Erwachens. Bevor man aber das Stadium von OPS oder plötzlichem Erwachen erreiche, erwiesen sich Übungsmethoden als sinnvoll.

a) Shou-i: Das Eine erhalten. Dies wird Fu Hsi (497-569) zugeschrieben, der den Ausdruck dem Taoismus entlehnte. Gemeint ist eine mystische Vereinigung des Individuums mit dem Tao. Zuweilen wurde das Eine auch als Gottheit gesehen, oder als Einhalten der Regeln: „Die Regeln einhalten bedeutet, die Geist-Regel einhalten. Dies nennt man ‚das Eine erhalten, ohne es zu verlieren‘.“ Im Taoismus konnte dies Langlebigkeit zum Ziel haben, in der Nordschule war es Erwachen: die ‚Regel des einen Geistes‘ (i-shin chieh) beschrieb die Buddha-Natur.

b) Kuan-hsin/K’an-hsin: den Geist (hsin) kontemplieren (kuan) oder „anstarren“ (k’an). Ein Kennzeichen der Nordschule und des Tientai, es wurde dort diskutiert, ob man den wahren Geist (chen-hsin) oder den getäuschten Geist (wang-hsin) zu betrachten habe. Shen-hsiu sah kuan-hsin als nicht nur mentale, sondern als spirituelle Erfahrung: „Dieser Geist, ist das mentale Aktivität (yu-hsin)? Welche Art von Geist ist es?“ Gemeint ist „Nicht-Geist“, der dem grenzenlosen Raum entspräche. Hung-jen schlägt vor, sich das Schriftzeichen für „eins“ (i-tzu) auf dem Grund des Alls vorzustellen (was der Vorstellung des Buchstaben A (a-tzu kuan) im Tantrismus ähnelt). Den Geist anstarren bedeutet, das Unlokalisierte anzustarren (k’an wu-so-ch’u). Es ist die „Abwesenheit von Gedanken“ und daher „Nicht-Reflektion, Nicht-Untersuchung“ (pu-ssu pu-kuan), wie es Mo-ho-yen formulierte. Der Übende löst sozusagen seinen Geist auf, indem er ihn betrachtet (Demiéville sprach von „Anoetismus“).

c) I-hsin Chieh: In der Nordschule wurden die Bodhisattva-Gelübde als „formlose“ (wu-hsiang chieh) oder „Ein-Geist“-Gelübde bedeutsam, sie fanden über das Plattformsutra in die Ochsenkopfschule (Niu-t’ou) Eingang. Charakteristisch ist die „höchste Reue“, die aus „korrektem Sitzen und dem Denken an das wahre Zeichen“ bestehe.

d) Nien-fo: Tao-hsin sah das Reine Land in einem selbst; „an den Buddha zu denken bedeutet an den Geist zu denken“.

Mit Fa-ju (gest. 689) begann die Ansicht, OPS sei keine Verbindung zwischen Chan und dem Studium der Doktrinen, sondern eine – wie es später hieß – „besondere Überlieferung außerhalb der Schriften“ (chiao-wai pieh ch’uan); diese Ansicht dürfte auch das Shôbôgenzô Dôgens beeinflusst haben.



(Foto: Keller)

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