Heute fasse ich zusammen: Stephen Heine:
Did Dogen go to China. Japaneses Journal of Religious Studies 30/1-2: 27-59
(2003). Dieser Essay von Heine, Professor für Religionswissenschaft,
untersucht u. a. den Wahrheitsgehalt der Behauptung, dass Dôgen zwischen 1223 und
1227 auf seinen Reisen durch China unter der Führung von Meister Ju-ching
Erleuchtung erlangte. Es werden dazu verschiedene Dokumente herangezogen, u. a.
das Teiho Kenzeiki zue aus der Tokugawa-Ära in der Interpretation von Nara
Yasuaki und ein preisgekröntes Buch von He Yansheng über Dôgens Beziehung zu
China.
Dôgens Zitate und Anspielungen auf Texte der Sung-Zeit
dienen als wichtige Basis für die Interpretation chinesischen Chans. Seine
Hauptquellen umfassen die Aufzeichnungen Hung-chihs und von Dôgens Lehrer
Ju-ching, die er beide als „alte Meister“ (kobutsu) bezeichnet (Ju-ching auch
als seinen „früheren Lehrer“, senshi),
sowie verschiedene Kôan-Sammlungen und „Übertragungen der Lampe“. Dôgen habe
sich wie Marco Polo ein halbes Jahrhundert später vor allem in der
kosmopolitischen Hauptstadt Hang-chou aufgehalten. Beider Erzählungen sind in
Hinblick auf ihre Historizität in Frage gestellt worden, bei beiden fällt auf,
dass sie sich als willkommene Gäste in China beschreiben, obwohl etwas Dôgen
zunächst mangels des erforderlichen Gebotenehmens die Teilnahme an der
Sommerübung verweigert wurde und nach dem Tod seines Lehrers Myôzen seine
Stellung noch mehr geschwächt worden sei. Konnte es da sein, dass Dôgen in
einem der Tempel der Fünf Berge in der Provinz Chekiang zum Hauptmönch ernannt
wurde?
Die bekannte Aussage shinjin datsuraku, Körper und Geist
abwerfen, die Dôgen seinem Mentor zuschreibt, stammt mit größter Sicherheit
nicht von Ju-ching oder irgendeinem anderen Meister der Sung-Zeit. Dôgen
erwähnt auch nicht, dass er selbst in China die Erfahrung von shinjin-datsuraku
gemacht habe. Dôgen brachte wahrscheinlich auch keine Ausgabe des Pi-yen
chi (Hekiganroku) aus China mit, die er – mithilfe eines Berggottes - in einer
einzigen Nacht kopiert haben soll. William Bodiford meint, dass mit hoher
Wahrscheinlichkeit das Übertragungsdokument, dass Dôgen von Ju-ching erhalten
haben soll und das als Nationalschatz in Japan gehütet wird, eine Fälschung sei
(tatsächlich beschreibt Dôgen selbst Schriftrollen mit typisch chinesischem
Charakter, der diesem Dokument fehlt). Es werden ein paar teils gleich in Frage
gestellte Hinweise aufgelistet, die für Dôgens Behauptungen sprechen könnten
(Artefakte; der Austausch von Mönchen wie Jakuen, der aus China mit in Dôgens
Gemeinschaft im Kôshôji kam; sein Schüler Giin, der nach dessen Tod zum Berg T’ien-tung
reiste, um Dôgens gesammelte Reden zu präsentieren, und dort wiedererkannt
wurde). Es werden grafisch zwei Theorien präsentiert, die Dôgens Wege in China
zu rekonstruieren suchen (Landweg und Seeweg-Theorie). Fragwürdig sind auch
zahlreiche Schilderungen übernatürlicher Ereignisse, etwa prophetischer Träume
Dôgens, die ihm beim Auffinden Ju-chings geholfen haben sollen, oder seltsame
Begebenheiten auf seiner Rückreise.
Die Quellen für Dôgens Reisen sind vor allem das Hôkyôki,
Tenzokyôkun, Shôbôgenzô zuimonki und das Kapitel „Shisho“ im Shôbôgenzô, sowie
das Denkôroku und Kenzeiki. Letzteres diente Menzan Zuihô im 18. Jhd. als
Quelle seiner hagiografischen (d. h. Heiligen beschreibenden, beschönigenden)
Version, nach der Dôgen auf seiner Pilgerreise zahlreichen Gottheiten begegnete.
Das Problem ist also, dass die Quellen entweder von Dôgen selbst stammen oder
aus seiner Schule, wo man Generationen nach seinem Tod Biografien über ihn verfasste.
1241 konvertierten etliche Anhänger der Daruma-shû zum
Sôtô-Zen. Kurz danach ging Dôgen in die Berge von Echizen und begründete das
Eiheiji-Kloster nahe dem Hajakuji-Tempel, der für die Daruma-shû bedeutend war.
Zu dieser Zeit begann Dôgen Ju-ching zu preisen und die Linji-Schule zu
attackieren, in deren Linie die Anhänger der Daruma-shû ordiniert hatten. Dôgen
betonte die Erfahrung einer direkten Übertragung „von Angesicht zu Angesicht“
(menju) als einzigen legitimen Weg, eine Linie fortzuführen. Dies widersprach
dem Gründer der Daruma-shû, Dainichi Nônin, der zwar Schüler nach China
geschickt hatte, um die Übertragung in der Linie Ta-huis zu erhalten, aber
selbst nie einem Chan-Meister begegnet war.
Heine kritisiert zunächst die Quelle Hôkyôki, die etwa 50
Dialoge Dôgens mit Ju-ching enthält. Sie schweigt sich über die beiden Jahre
vor der Begegnung mit dem Abt aus, und ihr Entstehungsdatum bleibe ungewiss.
Der Text wurde postum von Ejô einige Monate nach Dôgens Tod entdeckt und dann
erst wieder von Giun 1299 wiederentdeckt. Heute glaubt man, dass diese Schrift
erst gegen Ende von Dôgens Leben entstand und keinesfalls wie ein Notizbuch
seiner Chinareise anzusehen sei. Eine andere Theorie hält die frühen
1240er-Jahre als Entstehungsdatum für möglich. Denn 1242 war eine Kopie von
aufgezeichneten Reden seines Lehrers, das Ju-ching yü-lu (herausgegeben von
I-yüan) nach China gelangt, und Dôgen war davon enttäuscht und hatte womöglich
sein eigenes Werk dagegensetzen wollen. Legte man das Hôkyôki als verlässliche Quelle
beiseite, gibt erst wieder das mehr als zweihundert Jahre nach Dôgens Tod
entstandene Kenzeiki eine zusammenhängende Quelle für seine Reise ab. Dôgen
selbst hat nur wenig in China geschrieben, ein paar Erinnerungen an seinen dort
verstorbenen Lehrer Myôzen und ein paar Verse im zehnten Kapitel des Eihei Kôroku.
Dôgen erwähnt Gedächtnisfeiern für Myôzen auffälligerweise kaum und erst spät im
Eihei Kôroku, während er Eisai, den Begründer jener Tradition aus esoterischem,
exoterischem und Meditations-Buddhismus, in der Dôgen von 1216 bis 1223 im Kenninji
übte, mehrfach preist.
[Es folgen, stichwortartig, Datierungstheorien und Chronologien zu
Dôgens Reise. Zu den bemerkenswerten Einzelheiten gehören m. E. Dôgens
Träume vom Vollmond beim Anblick von Patriarchen-Porträts, vom
Pflaumenzweig, die Entdeckung von 360 Reliquien (shari) nach Myôzens
Tod, das Unterwerfen eines Tigers und Heilen eines Kranken mittels einer
Gottheit und eine Sichtung der Kannon auf stürmischer See. Desweiteren
folgt eine Auflistung der fünf Übertragungsdokumente (shisho), die Dôgen
tief beeindruckten.]
In Dôgens Übergangsphase zum Eiheiji
erwacht sein Interesse, die Übertragungslinie zu diskutieren. Im Kapitel
„Shisho“ des Shôbôgenzô wird er mit der Linji-Schule in Verbindung
gebracht, ohne dass dafür Nachweise erbracht würden. Die Behauptungen
der Übertragung durch Ju-ching von Angesicht zu Angesicht stammen aus
den zeitnah entstandenen Kapiteln „Busso“ und „Menju“.
Es folgt die Wiedergabe zahlreicher Begegnungen Dôgens mit
Mönchen und Meistern, wobei ihn oft Äbte von Tempeln der „Fünf Berge“ wenig
beeindruckten, aber anonym bleibende Mönche in ihrer schlichten, konzentrierten
Hingabe an den Dharma umso mehr. Laut Nara (2001) soll Dôgen gedacht haben, ihm
käme niemand in Japan und China gleich. Dôgen beschrieb den Mangel an
Erkenntnis in anderen Mönchen mit „keine Nasenlöcher im Gesicht“ und „kein
Schwert in ihrem Lachen“.
Heine wirft die Frage auf, warum Dôgen seine Beziehung zu
Ju-ching im Wesentlichen erst in seiner Übergangsphase der frühen 1240er-Jahre
zum Thema machte, wo doch dieser Lehrer für ihn eine solch besondere Bedeutung
gehabt haben soll. Andererseits: Warum sollte er, wenn es ihm um die
Legitimation einer Linie ging, ausgerechnet den nach anderer Überlieferung
wenig bedeutsamen Ju-ching dafür ausgesucht haben? Die Informationen zu
Ju-ching stammen vor allem aus dem Shôbôgenzô-Kapitel „Gyôji“ (Teil 2), Keizans
Denkôroku und dem Ju-ching yü-lu. Er war ein Patriarch der Chih-hsieh-Linie der
Ts’ao-tung Schule, die Dôgen nach Japan brachte. Die andere Hauptlinie der Ts’ao-tung
war die Hung-chihs, die von Tômyô E’nichi nach Japan gebracht wurde. Ju-ching
übte u.a. auch bei einem Schüler Ta-huis und war Mönch unter einem Linji-Abt,
seine Erleuchtung erfuhr er unter Hsüeh-tou aus der Ts’ao-tung-Schule. Hätte
Dôgen 1225, zwei Jahre vor Ju-chings Tod, eine lebensverändernde Erfahrung bei
diesem gemacht, wäre zu erwarten gewesen, dass er dies gleich nach seiner
Rückkehr nach Japan zum Ausdruck gebracht hätte. Im Hôkyôki finden sich jedoch
Kennzeichen von Dôgens Spätphase wie das Betonen der Kausalität (inga) und ein
Ablehnen der Einheit von Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus (sankyô
itchi).
Im Folgenden geht es um Unterschiede von Dôgens Darstellung
zu denen im Ju-ching yü-lu, den gesammelten Aussprüchen Ju-chings. Als Beispiel
wird ein Vers genannt:
Die Glocke sieht wie ein offenstehender Mund aus,
die dem Wind aus den vier Richtungen gegenüber gleichgültig
ist.
Wenn du sie nach der Bedeutung der Weisheit fragst,
antwortet sie nur mit einem Klingelton.
Dôgen verändert die Bedeutung, indem er das kontinuierliche
Klingen der Glocke betont und Spuren des Dualismus zwischen der Glocke und
ihrem Klang eliminiert:
Die Glocke ist eine Stimme, die Leere artikuliert.
Sie spielt den Gastgeber für den Wind aus den vier
Richtungen
und drückt mit ihrer eleganten, selbstgeschaffenen Sprache
das Tönen aus: das Klingen des Klingens.
Im Shôbôgenzô zuimonki (1236-1238) führte Dôgen Ju-chings
Hingabe ans Zazen deutlich vor Augen. Die Kritik an Ta-hui und anderen Linien
in den Shôbôgenzô-Kapiteln „Shohô jissô“, „Butsudo“ und „Bukkyô“, die Dôgen Ju-ching
zuschreibt, unterscheidet sich so signifikant von dessen Tonfall im Ju-ching
yü-lu, dass sie wie falsch zitiert oder erfunden wirkt. Nakaseko (1997) analysiert
genauer, worin sich die beiden Darstellungen Ju-chings unterscheiden. Dôgen
unterstellt Ju-ching Kritik an folgendem für das chinesische Chan typischen
Inhalten:
-
der Einheit der drei Lehren (laut „Shohô
jissô“ im Shôbôgenzô)
-
der intellektuellen Methode (kikan) in den
drei Phasen Yün-mens
-
den vier Beziehungen Linjis, den fünf Rängen
Tung-shans (Tôzans) und zahlreichen anderen Doktrinen (laut „Butsudô“ und „Bukkyô“
im Shôbôgenzô)
-
der sektiererischen Gespaltenheit der fünf
Häuser des Chan, die die Einheit aller Formen des Buddhismus bedrohe (siehe „Butsudô“)
-
der Selbständigkeit der Zensekte (siehe
Hôkyôki)
-
der Ansicht, die eine Trennung von Chan und
Sutren propagiert (siehe Hôkyôki)
-
dem naturalistischen Trugschluss, der Wirklichkeit
bestätigt, ohne sie zu verwandeln (siehe Hôkyôki)
-
einer Tendenz in einigen Chan-Denkern,
Kausalität und karmische Vergeltung zu leugnen (siehe Hôkyôki)
Weiter betont Dôgen Ju-chings Verwendung lyrischer Bilder
(siehe „Baika“ und „Ganzei“ im Shôbôgenzô).
Vieles davon steht im Widerspruch zum Ju-ching yü-lu. In
diesem Text wird weder Zazen herausgestellt noch werden Kôan abgelehnt, auch
die Faulheit und der Lebensstil der Mönche werden nicht kritisiert. Ju-ching
lehnte weder Konfuzius ab noch sah er andere Lehren als dem Buddha-Dharma
untergeordnet an, er zeigte sich nicht wegen der Fünf Häuser oder der
Selbständigkeit des Chan besorgt oder der Ansicht, die Chan von den Sutren
trennen wollte. Er kritisierte weder die kikan-Formeln Yün-mens noch die
naturalistische Häresie. Und er betonte weder Kausalität noch lyrische
Metaphern, wodurch er durchaus anderen Chan-Meistern der Sung-Zeit ähnelte.
Dôgen kritisiert im Eihei Kôroku noch andere Chan-Vorfahren,
etwa Hung-chi, den er besonders oft zitiert. Selbst sein Mentor Ju-ching bleibt
davon nicht verschont (Eihei kôroku III, 194).
In seinem Fazit meint Heine, diese Diskrepanzen und die
mangelnde historische Verifizierbarkeit würden einen Gläubigen wohl nicht
größer verunsichern.
Literatur (Auswahl):
He
Yansheng: Dôgen to Chûgoku Zen shisô. Kyoto 2000.
Steven
Heine: Dôgen casts off “what”? An analysis of Shinjin Datsuraku. Journal of the
International Association of Buddhist Studies 9: 53-70.
Takashi
James Kodera: Dogen’s Formative Years in China. Boulder 1980.
Shôdô Nakaseko: Dôgen zenji den kenkyû. Tokyo 1997.
Yasuaki
Nara: Anata dake no Shûshôgi. Tokyo 2001.
Namaste!
AntwortenLöschenMit Dôgen ist es doch genauso wie mit Bodhidharma oder Jesus.
Aus dem Selbstgelesenen und dem vom Hören-Sagen übernommenen hat man sich sein eigenes Bild zusammengestellt und das möchte man dann auch nicht erschüttert haben.
Wenn dann "neuer Stoff" auftaucht - seien es wissenschaftliche Arbeiten oder auch das "Dôgen-Movie", dann befindet man es für empfehlenswert, wenn es die eigenen Vorstellungen nicht erschüttert.
Ansonsten lehnt man es ab.
Da sehe ich zwischen Dôgen und anderen historisch-verklärten Persönlichkeiten keinen Unterschied.
Und letztlich werden wir wohl nie erfahren, wer / wie Dôgen wirklich war.
Wir können aber seine Schriften lesen, und heilsames daraus ziehen.
Buchstabenhörigkeit ist aber auch in Bezug auf Dôgen ein ebensolcher Fehler, wie beispielsweise beim Pali-Kanon, bei der Bibel, beim Koran.
Wie sagte Paulus noch so schön: "Drum prüft aber alles; und das Gute behaltet!"
< gasshô >
Benkei