John McRae* weist darauf hin, dass es unmöglich ist, die
Lehren Hui-nengs (638-713), der als der sechste Patriarch gilt, mit
Gewissheit zu bestimmen. Sein Schüler Shen-hui (684-754) zitierte ihn in seinen
umfangreichen Schriften nicht, und das Plattform-Sutra stammt aus der
Ochsenkopf-Schule und weist mehr Übereinstimmung mit deren Lehre auf als mit
der Shen-huis. Die berühmte Zeile aus Hui-nengs Erweckungsversen „Ursprünglich
gibt es da nicht ein einziges Ding“ kommt so tatsächlich in Texten der
Nordschule Shen-hsius vor (eine informell organisierte Gruppe in den damaligen
Hauptstädten Loyang und Ch’ang-an seit Beginn des 8. Jh.s, die von sich als der
„Lankavatara-Schule“ und der „Lehre vom Ostberg“ sprach), so dass deren Ideen
sich folglich auch im Plattform-Sutra finden. McRae weist anhand verschiedener Texte
nach, dass Shen-hui zunächst selbst den Lehren der Nordschule anhing und sich
auch in deren Überlieferung Kritik an Punkten findet, die Shen-hui anspricht, darunter
auch an den vier „Formeln“, die im letzten Blogbeitrag erwähnt wurden (so heißt
es in einer Schrift der Nordschule sogar: „Betrachte nicht den Geist, meditiere
nicht, kontempliere nicht und unterbrich den Geist nicht, sondern lass ihn
einfach fließen.“). Shen-hui ging es um die Kritik bestimmter Formen der
Meditation oder gar dieser selbst sowie um die Polemik gegenüber bestimmten
Lehrern. Sein Verständnis des Sitzens als „Nicht-Aktivieren der Gedanken“ fand sich
bereits in der Nordschule (während erst mit ihm das Verständnis von ch’an
als „Erkennen der ursprünglichen Natur“ betont wurde).
Der Gegensatz
zwischen allmählicher und plötzlicher Erleuchtung ist ein Produkt doktrinärer
Entwicklungen Mitte des neunten Jahrhunderts. Eine direkte Linie von Hui-neng
über Shen-hui zu Ma-tsu kann es nicht geben. McRae sieht daher den größten
Unterschied im Chan des 8. und 9. Jh.s zwischen den frühen Schulen des Nordens,
Südens und Ochsenkopfs, die konventionellen buddhistischen Lehren und Praktiken
neuen Sinn verliehen, und dem „klassischen Chan“, das mit der Hung-chou-Schule
von Ma-tsu beginnt und sich auf die Dialoge zwischen Meister und Schüler mit
all ihren Paradoxien und Absurditäten spezialisierte.
Shen-hui benutzte
in seiner eigenen Schrift „Plattformpredigt“ den Ausdruck „plötzlich“ (tun)
kaum und legte vielmehr Wert auf die Entwicklung von bodhicitta als dem
festen Entschluss, Erleuchtung zu erlangen (ja er setzte bodhicitta
sogar mit dieser gleich). Den Ausgangsmoment des Erwachens mit nachfolgender
Selbstkultivierung vergleicht er – offensichtlich nicht ganz treffend – mit der
Geburt eines Kindes: Das Baby komme plötzlich zur Welt, werde sich aber
allmählich entwickeln. Shen-huis Methoden zielten zwar darauf ab, diesen
initialen Moment zu erwecken, wollten aber vor allem Anhänger von seinen
Ansichten überzeugen. Außer der Rezitation des Diamant-Sutras hatte er nicht
viele konkrete Empfehlungen für die Praxis, vor allem nicht für die Phase des
Kultivierens, weshalb seine Linie auch nicht lange überlebte. Auf der anderen
Seite half Shen-hui den Unterschied zwischen Mönchen und Laien aufzuheben und
leitete durch sein Insistieren auf wu-nien (Nicht-Denken) gegenüber dem li-nien
(Transzendenz der Gedanken) der Nordschule eine besondere Vorsicht künftiger
Lehrer gegenüber Ideen ein, die dualistisch anmuten konnten, woraufhin das
Geäußerte als rhetorische Technik häufig gleich wieder in Frage gestellt oder „aufgehoben“
wurde.
Carmen Meinert weist in ihrem Aufsatz „Plötzliches oder
allmähliches Erwachen – Konträre Positionen im chinesischen
Meditationsbuddhismus?“ (Vorlesung an der Uni Hamburg 2003) darauf hin, dass
sich bereits bei Daosheng (360-434) ein Plädoyer für plötzliches Erwachen (dunwu)
findet , der in seinem synkretistischen Denken Anleihen beim Konfuzianismus und
Daoismus machte und das Endgültige (yiji) als Wahrheit oder Prinzip (li)
ansah, zu dem es – ohne Fortschreiten auf etwaigen „Bodhisattva-Stufen“ – zu
erwachen galt.
In der „Abhandlung
über das Erwachen des Glaubens im Mahayana“ (Dacheng qixin lun), einem apokryphen
Werk mit maßgeblichem Einfluss auf den Meditationsbuddhismus, werden die
Begriffe „ursprüngliches Erwachen“ (benjue) und „anfängliches Erwachen“ (shijue)
verwendet. Geist (xin) hat einen reinen Aspekt der Soheit (xin
zhenru), der dem Körper der wahren Wirklichkeit (dharmakâya)
entspricht, und einen bedingten, der dem Daseinskreislauf unterworfen ist (xin
shengmie) und mit dem Speicherbewusstsein (âlayavijnâna)
identifiziert wird. Ursprüngliches Erwachen ist der Grund, der unmittelbar
erfasst wird, aber „nur durch anfängliches Erwachen vollständig realisiert
werden kann“, also das allmähliche Fortschreiten bis zum endgültigen Erwachen.
Daraus wurde als Meditationsmethode die „Versenkung des einen Merkmals“ (yixiang
sanmei) entwickelt, nach der die „wahre Wirklichkeit der Buddhas gleich ist
mit dem Körper der Lebewesen“, mit anderen Worten die Sitzmeditation (zuochan).
Durch den Einfluss der Huayan-Theorie des Einen in der Vielheit setzte sich die
Ansicht durch, das absolute Prinzip (li) offenbare sich in allen
Erscheinungen (shi), folglich könne eine Übung mit allen anderen
gleichrangig sein und diese ersetzen.
In der Bodhidharma zugeschriebenen „Abhandlung
über die zwei Eintritte und vier Übungen“ (Erru sixing lun) werden der
Eintritt durchs Prinzip (liru) und durch Übungen (xingru) aufgeführt,
also die unmittelbare Erkenntnis der Buddha-Natur gegenüber der Praxis im
Alltagsleben, zwei Methoden, die später von Hong-ren bzw. von Shen-hsiu
aufgenommen wurden. In der Hong-ren, also der Nordschule, zugeschriebenen „Abhandlung
über die Essenz des Kultivierens des Geistes“ (Xiuxin yaolun) spielt –
im Gegensatz zum von der Südschule überlieferten Erleuchtungsvers Shen-hsius vom
Polieren des Spiegels – nicht das Beseitigen von Hindernissen des Geistes die
entscheidende Rolle, sondern dessen eigentliche Strahlkraft.
* “Shen-hui and the Teaching of Sudden Enlightenment in Early Ch’an Buddhism“,
in: Peter N. Gregory: Sudden and Gradual: Approaches to Enlightenment in
Chinese Thought (Honolulu 1987). Wie
die meisten hier erwähnten akademischen Texte lässt auch dieser sich zur
kostenfreien Lektüre im Original online finden.
(aus einem der kitschigen Tempel in umd um Chiang Rai)
Lieber Guido, sehr geehrter Herr Keller, whatever,
AntwortenLöschenda die Email nicht funktioniert: Ich bin über den Asso Blog gestolpert und plötzlich war ich überrascht, erschüttert, bewegt und glücklich. Ich hätte so etwas wenn überhaupt höchstens an den Rändern der englischsprachigen Diskussion erwartet. Jetzt habe ich so viel, und es fühlt sich auch noch nah an, ich bin ganz gerührt.
You got me singing!
N