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II. Erwachen ohne Meister


„Zunächst erwachst du zu der leeren Welt, doch im letzten Stadium des Erwachens findest du dich in dieser Welt, dieser Zeit, mit diesem Namen, in dieser Familie wieder. Eine solche Art von Erleuchtung zu erfahren, ist sehr schwierig.“ (Sokei-an)*

Im siebzehnten Jahrhundert gab es in Japan nicht wenige Zen-Anhänger, die daran glaubten, die authentische Überlieferung sei in den Jahrhunderten zuvor verloren gegangen. Als Gegenbewegung entstand so etwas wie das „Tokugawa Zen“ in der gleichnamigen (auch Edo-Zeit genannten) Periode von 1603-1868. Eines seiner Kennzeichen waren Mönche, die unabhängig von Lehrern ihre Erleuchtung erfuhren, was mushi dokugo genannt wird. Sie hielten andere nicht für in der Lage, sie zum Erwachen zu führen oder dieses zu bestätigen. So wurden sie zu Selbst-Erleuchteten oder Selbst-Zertifizierten (jigo jisho). Die bekanntesten unter ihnen sind Ungo Kiyo (1582-1659), Daigu Sochiku (1584-1669), Isshi Monju (1607-1645) und Bankei Eitaku (1622-1693) aus der Rinzai/Myoshinji-Linie und Suzuki Shosan (1579-1653) und Soko Gesshu (1618-1696) aus der Soto-Tradition.

Der bescheidene Ungo, der den Buddhismus des Reinen Landes mit Zen verband, und der exzentrische Daigu hatten einst unter dem gleichen Meister gelernt – Itchu „dem Stock“ Tomoku (1552-1621) – und inka (Dharma-Übertragung) erhalten, sie zweifelten jedoch ihre Bestätigung an. Bei Daigu, der einem Samurai-Geschlecht entstammte, war der Auslöser seine Unfähigkeit, die Frage der Mutter eines toten Kindes zu beantworten, wo dieses Kind hingegangen sei. Daigu, der damals schon Abt war, begab sich daraufhin erneut auf Pilgerschaft und soll erwacht sein, als er eines Morgens von seiner morschen Ruhestätte ins Wasser fiel. Er setzte sich später besonders für die Wiederherstellung verfallener Tempel ein.

Ungo, den man als Kind in einem Tempel zurückgelassen hatte, war ebenfalls zum Abt im Myoshinji berufen worden, zog aber den Aufenthalt in kleinen Tempeln vor. Im Traum soll ihm der/die Bodhisattva Kannon erschienen sein und ihn aufgefordert haben, auf dem Berg Ochi in Echizen ein Retreat zu beginnen, dass ihn zu tatsächlicher Erleuchtung bringe. Am siebten Tag in den verschneiten Bergen erkannte Ungo tatsächlich, dass „alle Dinge ungeboren“ sind. Wie Daigu war er der Ansicht, die Buddhas selbst um Anerkenntnis ersuchen zu müssen, da kein hinreichend qualifizierter Lehrer dafür erreichbar sei. Er warf seinen Wedel (hossu) in die Schlucht und erbat als Bestätigung für sein Erwachen, diesen wiederzubekommen. Dreizehn Jahre später wurde ihm dieser Wedel tatsächlich von einem anderen Abt überreicht.

Isshi stammte aus noblem Haus und lernte zunächst im Shokokuji. Später stellte er sich bei Takuan zur Koan-Übung vor. Dieser erwiderte: „Ich belaste meine Schüler nicht mit nutzlosem Gerede. Mit einer Pille kuriere ich all ihre Krankheiten!“ Daraufhin verließ ihn Isshi zunächst, um sich der Ritsu-Schule anzuschließen, kehrte aber später zu Takuan zurück. Meistens jedoch übte er für sich und erlebte sein Erwachen schließlich unter einem Zitronenbaum. Die Bestätigung hoffte er in China zu bekommen, doch ein Regierungsdekret verbot solche Auslandsreisen. Der abgedankte Kaiser drängte Isshi deshalb, zu Gudo Toshoku in den Myoshinji zu gehen. Tatsächlich bestätigte dieser erst neun Jahre nach Isshis Erweckungserlebnis dieses mit den Worten: „Einer, der hinsichtlich seines Erwachens nicht von einem Lehrer abhängt, ist in der Tat selten. Wenn dir das gelingt, musst du nicht mit Lehrern studieren. Der Schüler Isshi ist so einer, der unmittelbar aus sich selbst erwachte, ohne dass er sich bei seiner Suche auf andere stützen musste.“ Isshi wurde auch als Maler und Teemeister bekannt.

Wie stand es aber mit Takuan, den man ebenfalls gedrängt hatte, Isshi als Nachfolger zu benennen? Er tadelte – wie Ikkyu in seinem Werk Jikaishu – die formale Übertragung um ihrer selbst willen: „Was Dharma ist, kann nicht weitergegeben werden, und was weitergegeben wird, ist nicht der Dharma. Wenn der Dharma zu fähigen Menschen gelangt, wird er offenbar; wenn nicht, bleibt er verborgen. Verborgen ist er wie die Sonne, offenbart ist er ebenfalls wie die Sonne.“ Damit brachte Takuan zum Ausdruck, dass es keiner ununterbrochenen Dharma-Übertragung bedürfe, da die Lehre stets wieder neu entdeckt werden könne, auch wenn sie im Verborgenen geschlummert hat.

Meines Erachtens befinden wir uns in einer ähnlichen Zeit. Es ist schwer, einen Lehrer zu finden, der die eigene Erkenntnis richtig einordnen kann. Stattdessen gibt es „Dharma-Nachfolger“ wie Sand am Meer, deren Einsicht und Praxis mangelhaft ist. Dies gilt auch für namhafte und kommerziell erfolgreiche „Meister“ – selbst wenn sie vielleicht im Einzelfall selbst keine Erben benennen, denn das drängt sich zuweilen bloß als weiteres Zeichen ihrer Eitelkeit auf.

* Das Zitat wie die Informationen im folgenden Text, die von Peter Haskel zusammengetragen wurden, stammen aus "Zen Notes" Vol. LIX, Number 3 (2013), First Zen Institute of America.

Das Bild von Isshi trägt den Titel "Hotei mit Schirm" und findet sich z.B. hier.

Kommentare

  1. "Erwachen ohne Meister" ....Jeden Morgen erwache ich ganz von "Selbst"!
    Reines selbsterleuchtendes Selbstgewahrsein ist immer! Was geboren ist muss auch wieder vergehen. Wachen oder Schlafen? - Erleuchtung existiert nur auf der Grundlage von Nichtwissen. - Nichtwissende Erleuchtung ist Befreiung von allem.
    Ohne Körperbewusstsein gibt es keine Erfahrung von Selbst und anderem. Die Suche nach unserem Selbst; - wo, wie und wann entsteht der Erfahrungsmoment der eigenen Existenz, der eigenen Bewusstheit? Selbst sich offenbarend - Selbst sich bestätigend! - Erwachen passiert?! - Allmählich oder ganz plötzlich; - niemand da der bestätigt!

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  2. Die Aussage "„Was Dharma ist, kann nicht weitergegeben werden, und was weitergegeben wird, ist nicht der Dharma. Wenn der Dharma zu fähigen Menschen gelangt, wird er offenbar; wenn nicht, bleibt er verborgen. Verborgen ist er wie die Sonne, offenbart ist er ebenfalls wie die Sonne.“ " spricht mich sehr an.
    "„Dharma-Nachfolger“ wie Sand am Meer, deren Einsicht und Praxis mangelhaft ist. "
    In einem Buch habe ich gelesen, dass solche "Meister" durch ihr Tun (weitergabe einer falsche Dharma-Auslegungs-Praxis), sich einiges an leidvollen Karma aufbürden!
    Hast Du dazu eine Meinung?!

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    1. Herzlichen Dank für deine Liebe!
      Folge bitte meinen Worten mit der höchsten Aufmerksamkeit die dir Selbst geben kannst….

      Ja, ich habe eine Meinung dazu: Was ist Dharma? Was ist Wahrheit? In Selbst-Realization kein Anhaften von [des] Selbst-Gewahrsein, - keine Spuren von Ergreifen und/oder Verdrängen, das ist Wahrheit, das ist der Dharma. -
      Deshalb heisst es auch: "Erscheinung ist Wahrheit und Wahrheit ist Erscheinung!” - Es muss jemand “Dasein” - Dieses “Dasein” ist dieser “Jemand,” - der bist Du! -
      Sein= Existenz! Existenz ist selbstbezeugend aus sich Selbst = Ungeboren = Liebe = "Reines Selbst Erleuchtendes Selbst-Gewahrsein” d.h. Buddha sein! [Bodhidharma]

      Was ist - kann nicht erlangt werden! - Kommen und Gehen = [Gesetz von] Ursache und Wirkung.

      "Das Gesetz von Ursache und Wirkung ist ohne Bewegung!” [Zen-Spruch] ….da “ES” alles aus sich Selbst, durch sich Selbst, in sich Selbst bewegt - ist es [ein] “Unbewegtes,” - “Stille,” - “Liebe,” - “DAS” [“WAS"] alles bewegt.
      “DAS" Ungeborn[e] ist Subjekt und Objekt; Sein-Einheit-Wahrheit-Wirklichkeit, die nur im “Subjekt" erkannt wird. Nur so ist Alles ein “Innen” ohne ein “Aussen!” - Alles ein Eines ohne Zweites!

      Das “Neugeborene" braucht seine Umwelt zum Überleben. Der wahre Meister ist jenseits von Geburt und Tod - er ist “Immer"!
      Der Mensch, der sich in mystischer Schau - Selbst erkannt - [hat] wird [nur] in ständiger Selbst-Hingabe [Nächsten Liebe] zu “Dem” hin, was ER ist, - ewiglich weiterleben. - “Sei Der, Der du bist!” - Liebe! - “Ich bin", - der Da ist und Sein wird”!
      Der Mensch, der sich durch Selbst-Erkenntnis [daran] “aufgeilt” zu sein was er ist - muss “andere” benutzen um nicht haltlos in die Leere fallen zu wollen ohne zu wissen, dass die Leere nicht wirklich leer ist, sondern der Bereich des wirklichen Dharma.
      Huang-po sagt auch: “Gewöhnliche Menschen schauen auf ihre Umgebung, während Schüler des Weges auf das [ihr] Bewusstsein blicken. Der wahre Dharma aber ist, dass Du beides vergisst!”

      “Meister" ist [die] reine "Selbst-Liebe”! Ohne im Denken sein weist er auf “dich” hin, auf sich Selbst, zurück.

      “Narzissmus” gibt es nur für das “Neugeborene” - was nicht sterben will, [kann und darf]. Doch: “Wenn das Samenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt wird es keine Frucht bringen!” - Das “Ungeborene,” die reine bedingungslose Liebe, lässt weder ein “Ich" noch ein “Anderes" [die Welt] zu. - Es ist [k]eine Frage von Zeit! -
      Der “Mensch" spricht die Wahrheit; - fürchtet sich [aber davor] seiner Selbst bewusst zu leben. -
      Der Weg ist da - wo die Angst ist! - Der Weg ist das Ziel!
      Es können nicht Zwei im Streit miteinander leben. - Einer von Beiden muss sterben! - Dieser Krieg im aller “Innersten" [Gott und Mensch] [Ich und Mein] ...wer ist der beste Meister im Sein? …. muss in jedem Menschen - durch den Menschen “Selbst” ganz “AllEine" hingegeben werden. - “Mein Reich ist nicht von dieser Welt!” - "Also bist du doch ein König!” - "Du sagst es!”

      Liebe! - Die einzige Freiheit! - die der Mensch hat, das Eine zu tun - das andere zu lassen.

      Der “Falsche" ist der, der anderen Lasten aufschnürt - vertraue Gott in dir Selbst, in seiner Liebe zur Liebe hin; in Liebe, durch Liebe, aus Liebe! - Erst dann! - kein Karma - nur Stille, die sich ewiglich Selbst in dir spricht.

      Matthias

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  3. Namaste!

    Lange nicht mehr hier gelesen ich habe.
    Ich hab's jetzt nachgeholt!
    Seltsam, seltsam und doch zumeist wahrlich-wahr, soweit mein verblendeter Geist das beurteilen kann.

    Ich bin gespannt auf weiteres!

    < gasshô >

    Benkei

    PS: Kannst Du "Zen ohne Zenmeister" von Frenk Meeuwsen empfehlen?

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    1. Hallo Benkei, ich kenne nur die Rezension aus dem Deutschlandradio, den Beitrag dazu kann man auf deren Literaturseite finden.

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  4. Das ist sehr interessant. Erinnert an "Das Tao, das benannt werden kann, ist nicht das Tao." Danke für die Mühe des Schreibens! Das Konzept des "Erwachens" ist ein überaus schwieriges Konzept. Nicht zuletzt weil es mit Status verbunden ist bei den meisten Menschen, die es überhaupt kennen und ernst nehmen. Es wird ja von vielen als schwierig und selten beschrieben. Ich würde es vielleicht eher "Befreiung" bezeichnen. Oder "Klärung". Jedenfalls haben einige Menschen eine Sehnsucht danach.

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    1. "Erwachen" - Erleuchtung gibt es nur als ein ..."überaus schwieriges Konzept" so lange die Identifikation im Denken "von/über" [Nichtwissen] bestehen bleibt.
      Das "Eine" tritt ohne das "Andere" nicht in Erscheinung.
      Das "Andere" kommt nicht zu dir/uns - sprechend, zeigend: "Du bist Es, du bist der Erwachte, der Erleuchtete!" - Daran gibt es keinen Zweifel, dass das "Andere" ohne den Erfahrenden [einfach] "Nicht Da" ist. Nichts, - das "Nicht Da", ist immer!
      Erleuchtung und Nichtwissen sind zwei Seiten einer einzigen Münze. Ganz gleich von welcher Seite ausgehend ich schleife und poliere - beide verschwinden gleichzeitig miteinander.
      Die Verwirrung: "Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?" - liegt im Vergessen - des Wann, Wo und Wie wurde das "Ei" - abgelegt.
      Die Henne sitzt auf dem Ei und brütet es aus; - wenn da nicht vorher der "Bauer" kommen und dem Huhn das Ei wegnehmen würde.
      "Niemand" denkt auch nur einen Moment an den Hahn. Dabei ist doch gerade "ER" der "Einzige" der die Frage von Gewinn und Verlust bestätigen könnte.
      Hiermit dürfte die Frage geklärt ... - Warum wurde Jesus "dreimal" verleugnet bevor der Hahn "zweimal" krähte? -
      Der Osterhase hat die Eier um sie vor den Kindern zu verstecken. - Das "Auffinden" unermesslich gross! Ohne Suche kein Ei!

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