[Ausblick: Ich habe vor, jeweils zu Beginn und Mitte der folgenden Monate neue Beiträge einzustellen (also etwa 20 Texte bis Jahresende 2018), die von meinen Erkenntnissen und/oder akademischen Arbeiten handeln.]
In der heutigen Darstellung des Zen finden sich häufig zwei Probleme. Zum einen wird eine Herleitung des Zen über den Palikanon versucht, die zuweilen krampfhaft wirkt.[1] Zum anderen – und das hängt damit zusammen – wird in aller Regel aus der Perspektive des „Unerwachtseins“ argumentiert, also so, als seien die „geschickten Mittel“ des Lehrens und der Lehre ein wesentlicher Bestandteil der buddhistischen Praxis und Erkenntnis. Auf diese Weise verfangen sich dann die Adepten ständig in den klassischen logischen Widersprüchen und der einschlägigen buddhistischen Rhetorik. Diese Probleme begleiten freilich die ganze Geschichte des Zen, und darum ist für dessen Reformierung eine Klärung dieser Punkte vonnöten.
In der heutigen Darstellung des Zen finden sich häufig zwei Probleme. Zum einen wird eine Herleitung des Zen über den Palikanon versucht, die zuweilen krampfhaft wirkt.[1] Zum anderen – und das hängt damit zusammen – wird in aller Regel aus der Perspektive des „Unerwachtseins“ argumentiert, also so, als seien die „geschickten Mittel“ des Lehrens und der Lehre ein wesentlicher Bestandteil der buddhistischen Praxis und Erkenntnis. Auf diese Weise verfangen sich dann die Adepten ständig in den klassischen logischen Widersprüchen und der einschlägigen buddhistischen Rhetorik. Diese Probleme begleiten freilich die ganze Geschichte des Zen, und darum ist für dessen Reformierung eine Klärung dieser Punkte vonnöten.
Kürzlich habe ich eine Textsammlung von frühen Chan-Meistern
unter dem Titel „Gutes tun“ veröffentlicht. Darin finden sich auch Auszüge
(andere als im Folgenden) aus dem Zongjing lu (T. 2016) von Yongming
Yanshou (909-975). Yongming versucht, den Wert von Schriften für die irrenden
Menschen darzustellen, wobei er jedoch zugleich betont, gerade sie würden einen
von der Abhängigkeit von Worten und Buchstaben befreien. Mit anderen Worten:
Schriften sind bestenfalls Mittel zum Zweck: „Manchmal praktiziere Meditation
mit anderen (…), manchmal offenbare geschickte Mittel zum Wohle der anderen.“
Tatsächlich gelten aber im Zweifel stets die Schriften der Mahâyâna-Tradition
als maßgeblich: „Die 32 unterscheidenden Merkmale und 80 unterscheidenden
körperlichen Eigenschaften [eines Buddha] sind allesamt Fantasieprodukte.“[2] Eine
solche Anmerkung relativiert den Wahrheitsgehalt von Inhalten des Palikanon. Weiter
zitiert Yongming (aus unbekannter Quelle): „Du kannst Selbst-Natur und wahre
Soheit nicht verwirklichen, indem du die Schriften durchdringst (…) Wenn einer,
der die implizite Wahrheit (zong) und Selbst-Natur begreift, die
Schriften öffnet und untersucht, so objektiviert er weder die Worte darin noch
verfasst er Kommentare dazu.“[3]
Für die Diskussion einer Zen-Ethik werden wir noch auf eine
andere klassische These zurückkommen, die von Yongming so formuliert wird:
„Moralregeln, Meditation und Weisheit sind die implizite Quelle (zong)
aller Güte.“[4]
Dieser Dreiklang ist Vorstellungen aus dem Palikanon geschuldet, der ja die
Ordensregeln (Vinaya) allen anderen Lehren voranstellte. Noch im fünften
Jahrhundert hatten freilich die Buddhisten Chinas diesen Kodex nicht
übernommen, und ein anderer in der o.g. Publikation „Gutes tun“ zitierter
Chan-Vertreter namens Baotang Wuzhu (714-774) das Ritual zum Empfang der
Bodhisattva-Gelübde ganz am Vimalakirti-Sutra angelehnt: „Betrachte
Nicht-Denken als Gebote, Nicht-Handeln und Nicht-Erlangen als Meditation und
Nicht-Dualität als Weisheit.“[5] So wundert
es auch nicht, dass Yongming wiederum zur Erkenntnis gelangt: „Wenn Buddhas die
Geist-Essenz verwirklichen, wird das vollständige Erleuchtung genannt. Wenn
Bodhisattvas sie kultivieren, ist das die Übung der sechs Vollkommenheiten.“[6] Diese
sechs paramita wie Geduld, Gebefreudigkeit usw. (im Theravada-Buddhismus
sind es noch zehn), sind also nicht mehr die Ursache des Erwachens oder der Weg
dorthin, sondern vielmehr der Ausdruck der Erleuchtung. Folglich kann der
Meister bei Yongming dann auch die Behauptung eines Schülers "Die vier Meditationen (dhyana) und acht Versenkungen (samadhi)
sind der Weg" so kommentieren: "Der Körper des Buddha ist unbehindert (wuwei) und kann
nicht auf Kategorien verkleinert werden. Wie könnten die vier Meditationen und
acht Versenkungen der Weg sein?"[7]
In einer Abwandlung dieses Dialogs kommt jener Meister dann
auch auf die Buddha-Natur zu sprechen, ein für das Chan/Zen entscheidendes
Konzept, das dem Palikanon fehlt und das der wichtigste Hinweis darauf ist,
dass es sich beim Chan um eine eigenständige Schule handelt, die sich
revolutionär vom Palikanon absetzte. Wenn sich Zen-Linien bis auf Buddha
zurückführen, dann handelt es sich um einen metaphorischen Buddha, nicht den
historischen, den der Palikanon uns darzustellen sucht, denn dieser lehrte
weder den Tathagatagarbha, die Buddha-Natur, noch das damit verbundene, später
zu verhandelnde Bodhisattva-Ideal: „Der Kaiser fragte: ‚Was ist die
Buddha-Natur?‘ Der Meister antwortete: ‚Sie ist nicht getrennt von dieser Frage
Eurer Majestät.‘“[8]
Als Prüfstein, ob jemand die Buddha-Natur erkannt habe, wird etwa im (Mahâyâna)
Nirwana-Sutra die Fähigkeit genannt, dieses Sutra darlegen zu können.
Zur Frage, wie Erleuchtung erlangt werden kann, sagt Yongming
das Folgende: „Manche verwirklichten Erleuchtung durch Einblick in die Leere
[der phänomenalen Existenz]. Andere gelangten zur Wahrheit durch Verständnis
der bedingten Natur der Existenz. Einige nahmen allmählich über drei Zeitalter
die Methoden der Übung an. Einige erlangten Buddhaschaft plötzlich, durch die
vollkommene Kultivierung eines einzigen Gedankens.“[9] Selbst wenn
man „Methoden der Übung“ als im weiteren Sinne das versteht, was am ehesten den
Vorstellungen im Palikanon nahekommt (und damit auch dem Dreiklang von sila,
samadhi, prajna), dann ist diese Art hier beiläufig durch ihre
Zeitaufwändigkeit kritisiert: Ein Verständnis von shunyata und pratitya-samutpada
(Leere und Bedingtes Entstehen) oder eine Konzentration, wie wir sie aus der späteren
Koân-Schulung kennen, sind offenbar unmittelbarere Wege zum Erwachen.
Fazit: Von Beginn an setzten sich Chan-Meister inhaltlich
von der Lehre des Palikanon ab und bedienten sich stattdessen vorwiegend Ideen
der Mahâyâna-Tradition. Im Ringen um überlieferte Inhalte dominiert immer wieder
ein typischer Zen-Standpunkt, wonach sich selbst Tugend erst mit dem
Erwachen verwirklicht und nicht umgekehrt. Schriften behalten ihren
fragwürdigen Charakter, auch wenn man sich ihnen verbunden fühlt. Erwachen ist
ohne Schriftstudium und ohne das Praktizieren eines spezifischen „edlen Pfades“
möglich, allein durch Einsicht in die Leere und Bedingtheit der Existenz.
Gebote, Meditation und Weisheit sind nicht in erster Linie Ausdruck eines
körperlichen Handelns, sondern einer geistigen Einstellung. Erleuchtung
verwirklicht sich also offenbar am ehesten ohne den Rückgriff auf geschickte
Mittel oder spezielle Pfade, durch einen Erkenntnissprung. Es handelt sich um
das Erkennen der Buddha-Natur (chin. jian foxing) oder das „Erkennen der
Reinheit“ (kanjing), wie wir es schon bei Shenxiu in der Nordschule des
Chan finden (und es von Shenhui aus der Südschule fälschlich verstanden wurde).[10]
終日行而未曾行終日説而未曾説
Ein ganzer
Tag Übung, ohne geübt zu haben, ein ganzer Tag Lehren, ohne gelehrt zu haben.
(Zenrin kushu)
[Anmerkung: Damit
dieser Blog weg von Personendebatten zu Inhalten kommt, werden die Hinweise auf
Autoren und Werke fortan meist in kleiner Schrift in die Fußnoten gesetzt.]
[1] Für ein aktuelles Beispiel siehe Shôhaku Okumura:
“Connecting ‘Maka Hannya Haramitsu‘ to the Pali Canon“, in: Deepest
Practice, Deepest Wisdom (Wisdom Press 2018), wobei dieser Versuch
natürlich Dôgens eigenen verzweifelten Bemühungen um eine solche Verwurzelung
im Palikanon geschuldet ist.
[2] Yongming zitiert hier aus der
Tientai-Tradition, die aufs Chan Einfluss hatte. Siehe Welter, Albert: Yongming Yanshou’s Conception of Chan in the Zongjing
Lu: A Special Transmission Within the Scriptures (Oxford 2011).
[3] Welter, S. 265.
[4] Welter, S. 225.
[5] Wendi L. Adamek: Early
Chan History (Columbia University Press 2007), S. 343.
[6] Welter, S. 234.
[7] Welter, S. 189.
[8] Welter, S. 188.
[9] Welter, S. 229.
[10] Siehe John Mc Rae: The
Northern School and the Formation of Early Ch’an Buddhism (Honolulu 1986), S. 229f.
Sprich: Der Irrtum liegt darin, Hinayana/Theravada und Mahayana als zwei dicht, fast schon lückenlos aufeinanderfolgende Ausgestaltungen "des Buddhismus" zu sehen. Tatsächlich sind es aber eigentlich zwei weit auseinander liegende Ausprägungen, welche allenfalls weit entfernte gemeinsamen Vorfahren haben. Die beiden sind nicht Homo Sapiens (Mahayana) und Homo Erectus (Theravada), sondern eher Homo Sapiens und Orang Utang (oder noch weiter entfernt).
AntwortenLöschenSo in etwa?
.. ich interessiere mich sehr für Buddhismus und Meditation, aber habt ihr euch nicht auch schon die Frage gestellt, ob Meditation ein Beruhigungsritual für Männer, die ihre Sexualität verleugnen sein könnte, wie das Victoria Rationi in "Warum Mönche meditieren müssen" behauptet? LG Heidemarie
AntwortenLöschen@Heidemarie
AntwortenLöschenMeditation kann viel sein... Sie kann ein Fluchtweg vor der Realität sein, ein Machtinstrument, ein spaßiger Zeitvertreib, ein Mittel zur Erleuchtung und vieles mehr.
In welchem Umfang sie den von dir zitierten Zweck erfüllt (oder zeitweise erfüllt), bewusst oder unbewusst (d.h. welche Arten von Meditation? in welchem historischen Zeitraum? in welchem Land? bei welchem konkreten Individuum? in bestimmten Gruppen? etc. etc.) das Herauszufinden bedarf aufwendiger und akkurater Untersuchungen.
(Vielleicht hast du ein bisschen "Kleriker" von Drewermann im Hinterkopf?)
Keusche Mönche versuchen wohl eher durch Mediation die Trieb-Sexualität-Kraft zu ...... transformieren?!
AntwortenLöschenHat der Zen nicht starke Beeinflussung durch die Taoisten erfahren und diese ebenso durch die Zenisten?!