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Weiteres Interview mit Joshu Sasaki

Was ist die Essenz des Zen-Buddhismus?

Wer ist es, der eine solche Frage stellt? Jemand, der Zen praktizieren will, oder jemand, der gar kein Interesse an Zen hat? Welche Qualifikationen hat der Fragesteller? Ich nehme an, er bildet sich ein, dass jeder wissen will, was die Essenz des Zen ist. Doch im Buddhismus sprechen wir eher vom „ursprünglichen Gesicht“, und weil ich kein Gelehrter bin und nicht weiß, was der Fragende mit Essenz meint, kann ich nur antworten, dass sie sich im ursprünglichen Gesicht manifestiert.

Alles hat also eine Essenz im Sinne eines ursprünglichen Gesichts. Es ist die Essenz einer Blume, zu blühen, die Essenz einer Katze, Mäuse zu fangen – so manifestiert alles sein ursprüngliches Gesicht.

Auch wir Menschen manifestieren unser ursprüngliches Gesicht, die Frage ist also, wie wir dieses verstehen können.

Welchen Wert hat Zen für die westliche Welt?

Wer ist es, der einen Wert beimisst? Wer sucht nach Wert? Das Erste, was Zen hierzu zu sagen hat, ist: Wir sollten nicht bedingungslos und unhinterfragt jemandes Existenz anerkennen oder nach etwas suchen.

Was bedeutet es, einen Sinn für Werte zu haben? Und wer spricht von Werten? Ich selbst würde Werte nur mit jemandem diskutieren, der herausgefunden hat, was das Selbst ist, das diese Werte aufrecht erhält, und nicht mit jemandem, der nur ein Ego bestätigt, das davon spricht, Werte zu haben. Lerne zuerst, was das Selbst ist, dann komme mit Fragen nach Werten zu mir! Finde heraus, was du selbst mit Werten meinst, dann frage mich, ob Zen einen Wert hat. Wir müssen deutlich vor dem aufstehen, was wirklich Wert hat, doch zunächst herausfinden, was dies ist und wer da aufsteht. Doch wenn du jemand bist, der unhinterfragt die Existenz eines Egos und bedingungslos das Halten von Werten akzeptiert, dann wird es sehr schwer für dich, Zen zu erlernen.

Im Buddhismus ist der einzige zufriedenstellende Weg, einen Sinn für Werte zu manifestieren, dein wahres Gesicht zu offenbaren. Jeder kann dies tun, und in dieser Offenbarung besteht keine Notwendigkeit, über Werte zu reden. Wir Menschen begegnen von Geburt an und bis wir unser ursprüngliches Gesicht manifestieren zahllosen Dingen und Wegen. Es ist sinnlos, zu denen, die auf dem Weg der Evolution nur taumeln oder die unreif sind und nur an sich denken, vom Sinn der Werte zu sprechen.

Sind die Menschen nicht alle zu Sklaven des ein oder anderen Wertesystems geworden? Von Beginn an können wir eine Kluft zwischen denen, die Sklaven ihres Wertesystems sind, und denen, für die das nicht gilt, erkennen. Was der Person A wertvoll erscheint, bedeutet der Person B womöglich nichts. Ein wahrer Sinn für Werte sollte aber jeden zufriedenstellen.

Was bedeutet es, ein Zen-Leben zu führen?

Vom Zen-Leben spricht das „Ich bin“-Selbst. Dieses „Ich bin“, das solche Fragen aufwirft, ist nicht vollständig. „Wasch dir das Gesicht! Trage Makeup auf!“ So oder ähnlich magst du reden, doch es wird nur zu Konflikten führen, solange du nicht für das deutlich aufstehen kannst, was wirklich wertvoll ist, und solange du nicht weißt, wer du bist.

Wie wichtig ist eine starke Klostertradition für die buddhistische Praxis im Westen?

Wer so etwas fragt, weiß gewiss nicht, wer er ist. Seine Fragen führen dann auch andere in tiefere Missverständnisse darüber, wer sie sind.

Kann die buddhistische Praxis und Meditation der westlichen Psychologie und Psychotherapie helfen?

Ich bin kein Psychologe, sondern Zen-Mönch. Psychologen gründen ihren Fachbereich unhinterfragt auf eine in Subjekte und Objekte aufgeteilte Welt. Solange sie dies tun, werden sie nie die wahre Psychologie erreichen, die darauf basiert, dass die Welt der Objekte und Subjekte nicht die Welt der Objekte und Subjekte ist. Dies ist die Manifestation des ursprünglichen Gesichts, das Stadium wahren Heils und Friedens. Das ist es, was Zen lehrt, und so mag es der Psychologie helfen.

Welche Probleme sehen Sie bezüglich der Zen-Praxis im Westen?

Ich glaube, es war ein Franzose, der als erster sagte: „Zeit ist Geld.“ Im Buddhismus sagen wir: „Buddha ist Geld.“ Wenn du wirklich verstehst, dass Zeit Geld ist, dann begreifst du auch, was Buddha ist. Wenn du also verstehst, dass Zeit Buddha ist, dann wirst du reich. Nun kommen wir endlich zu etwas, das Zen ist! Zeit ist Buddha – das ist ein Koan. Ein Koan ist etwas, das dir hilft, das Problem deines Selbst zu lösen. Kann Geld dies tun? Nein, es ist Buddha, der dein Selbst für dich lösen kann. Was ist also Buddha? Buddha ist das Stadium wahren Heils und Geistesfriedens.

Haben Westler besondere Probleme, die sie von Menschen im Osten unterscheiden?

Sicher! Jeder hängt an etwas, aber jeder an etwas Verschiedenem. Japaner hängen an ihrem Japanischsein, Amerikaner am Amerikanischsein, Christen am Christsein, Muslime am Muslimsein, Männer am Mannsein  und Frauen am Frausein. So hat jeder andere Probleme.

Wenn wir wirklich mit den Augen der Gleichheit sehen können, dann gibt es keinen Grund mehr, an etwas zu hängen. Alle Kriege beruhen darauf, dass wir nicht mit den Augen der Gleichheit sehen können. Darum lehrt der Buddhismus das Prinzip von Gleichheit und Unterschieden.

Wenn jemand dieses Prinzip nicht recht versteht, mag er zwar andere belehren oder irgendwelche Neuigkeiten berichten, doch seine Lehre und Berichterstattung sind nicht das wahre Ding. Journalisten denken oft, einfach zu sagen, was passiert ist, genüge. Doch sie sollten auch darüber berichten, warum die Dinge geschehen. Dazu muss man zum Beispiel die Unzulänglichkeiten der Regierung erläutern. Die Zeitungen erfüllen diese Aufgabe nicht. Im Buddhismus kommt man damit nicht durch.

Welche Probleme sehen Sie in der westlichen Welt?

Ich bin kein Politiker, ich bin Mönch, jedoch auch ein Bürger dieser Welt. Ich kann mich der menschlichen Gesellschaft nicht entziehen und darum meine Meinung zum Zustand der Welt sagen. Im japanischen Buddhismus nennt man die Gesellschaft seken, die säkulare, staubige Welt. Sie ist nicht perfekt und verweist wie der griechische Staat auf eine begrenzte Gruppe von Menschen, nicht den ganzen Kosmos. Viele solcher unvollständiger Gruppen haben unabhängige Nationen gebildet und so den perfekten Zustand begrenzt.

Ihre begrenzten Standpunkte manifestieren sich innerhalb der Vollständigkeit, des Ganzen, nicht außerhalb. Der Buddhismus lehrt, dass das Stadium der Perfektion unweigerlich begrenzt ist und beschränkte Anschauungen genau innerhalb des perfekten Zustands erscheinen. Würden wir so denken, gäbe es keinen Grund für Konflikte. Warum also sind diese so zahlreich? Die Zen-Übung ist eine Antwort auf dieses Warum. Wer sich solche Fragen, wie sie mir hier gestellt werden, ausgedacht hat, soll hierher kommen und praktizieren. Wenn man vollständig mit „Ja!“ antworten kann, dann verschwindet der begrenzte Kosmos, und der unbegrenzte manifestiert sich jenseits aller Konflikte. Lautet die Antwort jedoch „Ich bin reich“ oder „Ich bin arm“, dann ist die Welt des unterscheidenden Bewusstseins aktiv und Auseinandersetzungen werden folgen.

Die Welt der Beschränkungen jedoch für schlecht zu halten ist falsch. Der Buddhismus lehrt, dass das begrenzte „Ich bin“ sich unweigerlich offenbart. Das „Ich bin“-Subjekt offenbart sich dieser Person gleichzeitig mit den Objekten. Genau in dem Moment, wo ein Mann geboren wird, ist auch die Frau geboren. Der große Kosmos erlaubt es, sich zu begrenzen, indem er sagt: „Du wirst als Mann geboren, du als Frau, du wirst Vater sein und du Mutter.“

Wenn sich die Ganzheit in zwei teilt, dann stehen sich plus und minus gegenüber, und zwischen dem, was nur plus und nur minus ist, taucht ein unvollständiger Raum auf. Er unterscheidet sich vom vollkommenen Raum, den man als Leere oder Null kennt. Der Buddhismus nennt diesen unvollständigen Raum behelfsweise den Beginn jedes „Ich bin“-Selbst. Teilt sich der große Kosmos in zwei, werden drei Welten offenbar. Die Plus-Welt des Vaters ist die Vergangenheit, die Minus-Welt der Mutter die Zukunft. Die Welt des Abstands ist der unvollständige Raum, der diese beiden Welten von Vergangenheit und Zukunft trennt, also die unvollständige Gegenwart, die bei ihrer Geburt plus und minus enthält. So wird das Selbst geboren. Der gegenwärtige Moment wird als winzig kleine Existenz geboren, indem er  0,00000001 der Plus- und Minus-Aktivitäten empfängt. Auf solche Weise lehrt der Buddhismus die Geburt des Selbst. Zen-Praxis erfordert, dass wir so lange üben, bis die Weisheit, die von der Wahrheit dieses Prinzips weiß, ersteht.

Es ist zwar in Ordnung, Fragen zu stellen, doch im strengen Sinn sind jene im Zen nicht erlaubt, die aus einem bedingungslosen Anerkennen des Selbst stammen. In der Welt des Journalismus sind solche Fragen die Norm. Wenn man das Prinzip der Geburt des Selbst klar begreift, dann ist auch die Nicht-Existenz von Amerika, England, Russland und China klar begriffen. Dann könnten alle Nationen im Wissen, dass sie zeitlich begrenzt innerhalb einer perfekten Welt auftauchen, die im Frieden mit sich ist, harmonisch miteinander leben. Stattdessen streiten sich alle. Wir aber müssen lehren, wie man eine friedliche Welt erschafft und in ihr wandelt.

Was können die Zen-Übenden gegen den Krieg tun?

Wenn du ein Weltenführer bist, kannst du über die Notwendigkeit des Friedens belehren. Tatsächlich leben wir in einer Welt endloser Kriege, und sie zum Erliegen zu bringen, ist äußerst schwierig. Doch versuchen müssen wir es. Der erste Schritt soll sein, dass sich die Weltenführer nicht bekriegen. Die Geburt der Vereinten Nationen war sehr begrüßenswert, und je mehr sich die UN auf den Wunsch nach Frieden und Harmonie in der Welt besinnt, desto eher werden Mittel gefunden, Kriege zu beenden. Dies kann sowohl mit Waffen sein, die weiteres Töten verhindern, als auch mit wirtschaftlichen Sanktionen und anderen geschickten Mitteln. Gelehrte und religiöse Führer stehen in der Verantwortung, geschickte Mittel zur Friedensgestaltung zu finden. Doch gegenwärtig ist das Gegenteil der Fall und sie zetteln Kriege an. War für eine Schande!

Wer auch immer sich diese Fragen ausdachte, ist mir willkommen, doch hier ist eine Warnung: Sind die Fragen unpassend, werde ich sofort ärgerlich!

(undatiert)

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