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Zen als nicht-religiöse Lebensweise (Essay)

[Auch diesen Beitrag habe ich vor einigen Monaten bei einem (Essay-)Wettbewerb eingereicht. In gekürzter Form erscheint er im buddhistischen Magazin "Ursache & Wirkung". Er fasst einige im Lauf der Zeit in diesem Blog verhandelte Ideen zusammen und soll zu einem zukunfttauglichen Zen hinführen.]

 

Zen als nicht-religiöse Lebensweise

 

„Weder wasche ich mir die Hände noch schere ich mir das Haupt,

ich lese keine Sutren und halte keine Regeln ein,

verbrenne keinen Weihrauch, mache keine Sitzmeditation,

vollführe keine Gedenkzeremonien für einen Meister oder Buddha.“

Chin’g gak Kuksa Hyesim (1178-1234)

 

Im Laufe der buddhistischen Geschichte bildete sich eine Tradition namens Zen (chin. Chan) heraus. Üblicherweise wird sie der Schule des „Großen Fahrzeugs“ (Mahayana) zugerechnet, im Unterschied zur älteren Schule des „Kleinen Fahrzeugs“ (Hinayana oder besser: Theravada). Da Religion unter anderem ein Beachten von Vorschriften erfordert, halten einige das Zen nicht für eine Religion, ja nicht einmal mehr für Buddhismus. Eine solche Auffassung macht Sinn, wenn man dem Zen seine noch immer üblichen Rituale und buddhistischen Glaubenssätze tatsächlich entzieht. Im Folgenden soll exemplarisch aufgezeigt werden, dass dieser Weg von Anfang an im Zen angelegt war und es damit zu einer kulturübergreifenden Lebensphilosophie werden lässt.

 

In seinem Klassiker Grundzüge der buddhistischen Philosophie schrieb Junjiro Takakusu: „Dem Zen zufolge ist das Wissen um die moralische Disziplin ursprünglich in der menschlichen Natur vorhanden.“ Dies deckt sich mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass bereits Babys Empathie und Mitfreude empfinden können, zwei der grundlegenden Tugenden (skt. brahmavihara) im Buddhismus. Mit dieser Ansicht hat man ein logisches Problem des buddhistischen (Pali-)Kanons aufgelöst, nach dem ein „Achtfacher Pfad“ der Tugend zu gehen sei, um zu erwachen. Denn der Buddha, der diesen Pfad lehrte, betrat selbst erst einige Irrwege (etwa den der strengen Askese), ehe er zu dieser Ansicht gelangte. Die Erkenntnis und Ausformulierung eines ethischen Pfades geschah also erst nach seiner Erleuchtung. Offensichtlich muss es also möglich sein, von Natur aus moralisch einwandfrei zu handeln bzw. trotz Irrtümern und Fehltritten und ohne Wissen eines solchen edlen Pfades zum Erwachen zu gelangen. Kaiten Nukariya drückte es so aus: „Je höher der Gipfel der Erleuchtung erklommen wurde, desto weiter wird die Aussicht auf die Möglichkeiten moralischen Handelns.“

 

Die moralischen Gebote der Weltreligionen sind sich zudem sehr ähnlich. Hier kann man wenig Spezifisches ausmachen, auch an Spiritualität völlig Desinteressierte werden ihren Kindern grundlegende Verhaltensweisen beibringen: nicht zu töten, nicht zu stehlen, nicht zu lügen, nicht die Ehe zu brechen.

 

Im Buddhismus spricht man darum von der „dreifachen Übung“. Diese bedeutet eine gleichrangige Praxis von Regeln/Geboten, konzentrierter Meditation und Weisheit. Im Theravada-Buddhismus meint man gemäß der Überlieferung des Palikanon, Konzentration und Weisheit seien nicht zu beherrschen, wenn man nicht vorher die Moral meistere. Ein Vorläufer des chinesischen Chan (Zen) namens Seng-chao (ca. 374-414) verfasste den Traktat „Chao lun“ und setzte dieser Position eine überraschend andere entgegen. Seng-chao war vom Taoismus beeinflusst und der Meinung, Weisheit sei angeboren und nicht erworben, nicht von Meditation zu trennen und erst durch das eigentliche Erwachen aktiviert. Im Grunde erkenne der Weise also selbst nichts, sondern kosmische Erkenntnis würde sich in ihm mittels Meditation offenbaren. Dinge, die in Abhängigkeit entstehen (skt. pratitya samutpada) – eine für viele Buddhisten unabdingbare Lehre – seien hingegen nicht „wahr“, und auch das Karma schwinde durch die spirituelle Praxis auf natürliche Weise, wodurch Nirwana, der ultimative Geistesfrieden, erlangt werde. Es muss traditionellen Buddhisten unerhört erscheinen, wenn jemand wie Seng-chao Kausalität derart in Frage stellt und auch traditionellen Regeln den Geist der klassischen sechs Tugenden (skt. paramita) vorzog: „Die Herrschaft des vollendeten Wesens ist Antwort und nicht Aktion, Wohlverhalten und nicht Mildtätigkeit – so werden sein Handeln und seine Wohltätigkeit größer als die der anderen. Dennoch wendet er sich weiter den kleinen Pflichten des Lebens zu, und sein Mitempfinden verbirgt sich in verborgenen Handlungen.“ Seng-chao betont unter den Tugenden besonders das illusionslose Geben (skt. dana). Während die Regeln Übungen darin sind, etwas nicht zu tun (nicht zu töten, nicht zu lügen usf.), ist der Kern der Ethik hier schon ein dezidiertes Handeln als Reaktion auf die Umstände.

 

Der Tien-tai-Mönch Chih-i (538-597) beeinflusste mit seinem erstaunlich komplexen Hauptwerk Mo ho chi kuan („Anhalten und Sehen“) das Zen und den Reines-Land-Buddhismus. Seiner Ansicht nach empfahl der Buddha nur solchen Menschen die Tugenden als Weg, die nicht in der Lage waren, das „Anhalten“ ihrer Gedanken zu praktizieren. Dabei sollte in einer Art andauernder Versenkung (das „Sehen“) kein Platz mehr für ablenkende oder ausufernde Gedanken gelassen werden. Nirwana und Samsara (der Kreislauf des Werdens) waren bei Chih-i bereits eins: „Die fünf Vergehen sind nichts anderes als Erleuchtung“, das Befolgen eines Tugendkataloges zweitrangig gegenüber steter meditativer Versenkung, in der die „Leerheit“ von Vergehen und Verdienst gleichermaßen erkannt wird.

 

Auch Wuzhu (714-744) merkte an, es sei besser, die Gebote zu zerstören, da sie täuschende Gedanken beförderten, und stattdessen „wahres Sehen“ zu üben, das zum Nirwana führe. Zu Wuzhus Zeiten war es noch üblich, die im Kanon als Vinaya tradierten Ordensregeln zu befolgen, weshalb sein Ansatz als besonders revolutionär gelten darf. Vielleicht hatte er die ethischen Mängel jenes Kodex bereits erkannt, der Menschen mit diversen Gebrechen von der Ordination ausschloss. Bei der klassischen Aufnahmezeremonie wurde der Anwärter u. a. gefragt, ob er Ekzeme, Lepra oder Tuberkulose habe. Weitere Ausschlussgründe nach dem Vinaya: Humpeln, Einäugigkeit, Blindheit, Taubheit, Kropf, chronischer Husten, Körperlähmungen, miteinander verbundene Augenbrauen (!), fehlende oder zusätzliche Körperglieder (wie ein sechster Finger), Klumpfuß, Buckligkeit, Zwergenhaftigkeit, Homo- und Bisexualität, Transsexualität, Epilepsie. Diese Manifestation der Mitleidlosigkeit wirkt geradezu wie ein Beweis, dass das Befolgen von Regeln, insbesondere derer für Ordinierte, nicht zur Weisheit führt. Im Standardwerk Zenrin kushu lautet ein Vers, der die Trennung von ordiniertem und gewöhnlichem Leben aufhebt: „Jeder einzelne Schritt – das Kloster.“

 

Der legendäre Bodhidharma (5. Jh.) lehnt sich ans Vimalakirti-Sutra an, wenn er sagt, alle Taten könnten zum Ausdruck von Erleuchtung werden. Selbst ein Bodhisattva, ein tätiger Erleuchteter, dürfe Begehrlichkeiten zeigen, solange er/sie dabei unbewegt bleibe, d. h. nicht bewerte und moralisiere: „Wenn richtig und falsch nicht aufkommen, ist die Verkörperung der Gebote rein; dies nennt man moralische Tugend.“

 

Die Hung-chou-Schule begann mit Ma-tsu Tao-i (709-788) in der chinesischen Tang-Zeit und berief sich auf die „plötzliche Erleuchtung“ sowie deren Kultivierung. Diese Erleuchtung käme plötzlich über einen und nicht durch einen bestimmten Weg, auf dem man Gebote, Disziplin oder Tugenden praktiziere. Ein Anhänger dieser Schule konnte nach dem Prinzip „eine Robe, eine Schale“ mit wenig Materiellem zufrieden sein. Zugleich reagierte er dank der Fähigkeit, Grenzen moralischer Normen zu überwinden, auf individuelle Personen und Situationen so, wie diese es erforderten, und nicht, wie es ein Regelkatalog vorgab.

 

Shen-hui (684-758), ein Schüler des sechsten Patriarchen Hui-neng (638-713) in der Erbfolge des chinesischen Zen, war der Meinung, dass die Menschen von Beginn an in Ordnung seien und alle Konzentrationsmethoden, die zum Erwachen führen sollen, deshalb unangemessen. Ein Schüler solle sich stattdessen einfach seines verwirrten Geistes bewusst werden und seine ursprüngliche Natur zu entdecken trachten. Dabei würde er „Nicht-Denken“ erfahren, da dieser Natur mit gewöhnlichem Denken nicht beizukommen sei, und in eben diesem Nicht-Denken sei die eingangs erwähnte dreifache Übung von Regeln, meditativer Versenkung und Weisheit verwirklicht. Praxis sei also kein Weg zur Erleuchtung, sondern ihr Ausdruck. Das logische Problem, dass es offensichtlich bis hin zur Erleuchtung ja doch eine Praxis gibt, wurde hier nicht hinreichend geklärt. In der Nordschule des namensähnlichen Shen-hsiu (606?-706) finden wir noch prägnantere Anweisungen: „Betrachte nicht den Geist, meditiere nicht, kontempliere nicht und unterbrich den Geist nicht, sondern lass ihn einfach fließen.“

 

Statt einer dreifachen Übung kristallisiert sich also zunächst ein Duo aus Meditation (als hauptsächliche Praxis) und Weisheit (als deren Ausdruck oder Ergebnis) heraus. Da der Zen-Übende nicht an Schriften haften soll und in der Meditation lernt, auch nicht an Gedanken und Konzepten zu hängen, sollte ihn das Grübeln über Regeln und deren Einhalten gerade nicht umtreiben. Hier zeigt sich ein großes Vertrauen in die natürliche Fähigkeit des Menschen zum moralischen Handeln und in eine Vertiefung desselbigen durch das „Erwachen“.

 

Auch was andere Kennzeichen einer Religion angeht, etwa das Rezitieren heiliger Texte, gibt es deutliche Aussagen. Takuan Soho (1573-1645) bezeichnete es einst als „künstliches Handeln“. Allem, was verbindlich in Worte gegossen war, stand das Zen in seiner Geschichte skeptisch gegenüber. Dies muss selbst für die „Edlen Wahrheiten vom Leiden“ gelten.

 

Schon in der Erläuterung, Geburt, Altern, Krankheit und Tod seien leidhaft, findet sich eine perspektivische Verzerrung, da ja nur die letztgenannten drei von einer Person mit Ich-Bewusstsein erfahren werden, die Geburt also vom in die Welt kommenden Menschen gar nicht bewusst als leidhaft erfahren wird. Aus der Zen-Sicht bindet sich jemand unnötig an Worte, wenn er die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad zur Aufhebung des Leidens für den Kern des Buddhismus hält. Wie kann z. B. für den einen „rechter Lebensunterhalt“ (ein Bestandteil dieses Pfades) sein, von anderer Hände Tierschlachterei zu leben – wie diejenigen Mönche, die Fleischspenden annehmen –, während die anderen dafür sich die Hände mit Blut besudeln müssen und dafür noch getadelt werden? Da auch das Geschäft mit Giften untersagt ist, könnte zudem kein Buddhist Apotheker werden. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die ethischen Anwandlungen dieses Pfades demzufolge als gar nicht so tiefsinnig. Im späteren Buddhismus hingegen ist die dritte der Edlen Wahrheiten, das Erlöschen des Leidens, von zentraler Bedeutung. Wir lesen im Shrimala Sutra – das eine Königin dem Buddha vorgetragen und das dieser bestätigt haben soll – von dieser „Einen Wahrheit“, die beständig, wahr und eine Zuflucht sei, während die anderen drei Wahrheiten einen unbeständigen Charakter hätten. Wörtlich heißt es da: „Die Edlen Wahrheiten des Leidens, der Ursachen des Leidens und des Weges zu seiner Auflösung (d. h. der Achtfache Pfad) sind tatsächlich unwahr, unbeständig und keine Zuflucht.“ Es geht also nur um eines: Das Erlöschen des Leidens, das im Sanskrit dukkha heißt. Da an vielen Stellen des buddhistischen Kanons auch körperliches Leiden, also Schmerzen, darunter subsumiert werden, denen wir uns alle häufig nicht anders als durch Schmerzmittel entziehen können, kann hier sinnvollerweise nur die gewöhnliche (z. B. lamentierende) Einstellung zum Leiden und Schmerz gemeint sein, die wir durch geistige Übung verwandeln können. Auch ein Buddhist ändert ansonsten nichts an seiner Geburt, dem Krankwerden, Altern und Tod. Überwindbar ist nur das Ausmaß des Leidens am Leiden. „Was jemanden vom Leiden an Geburt und Tod befreit, ist stets die authentische Art zu sein (skt. asayamanda). Dann ist seine Daseinsweise wie seine Sprache echt und nicht gekünstelt.“ (Shurangama Sutra)

 

Eine weitere als unabdingbar für den Buddhismus angesehene Lehre ist die vom Karma und bedingtem Entstehen. In einer unsäglichen, für den Buddhismus-Unterricht an deutschen Schulen publizierten Schrift heißt es: „Zum Beispiel wird eine Handlung, die von Hass motiviert ist, eine Wiedergeburt in den Höllen verursachen (…) Diebstahl kann (…) eine Wiedergeburt in Gegenden verursachen, die von Hungersnöten heimgesucht werden (…) Gemäß der buddhistischen Schriften verursachen gewisse Handlungen bestimmte karmische Auswirkungen. Zum Beispiel führt Niederträchtigkeit dazu, arm zu sein (...) das Retten von Leben führt dazu, ein langes Leben zu haben.“ Solch primitive Vorstellungen von einem gerechten Ausgleich guter und schlechter Handlungen legen nahe, dass es eine Wiedergeburt geben wird, wodurch die irgendwie gleiche Person die Quittung für ihre früheren Taten bekommt. Im frühen Zen erkannte man jedoch, dass das Karma durch entsprechende gedankliche Vorbehalte entsteht und letztlich genauso wenig existent wie alles andere sei, sondern von einer „leeren“ Natur. Man befreit sich vom Karma also auch dadurch, dass man sich von dem Konzept des Karma selbst lossagt. Es steht in unmittelbarer Verbindung zur „Zwölfgliedrigen Kette des Entstehens“, der Vorstellung vom Entstehen in Abhängigkeit. Der Buddhologe Edward Conze vermutete, dass es sich ursprünglich bei dieser Kette nur um acht Glieder gehandelt haben dürfte, „vier der Kettenglieder fehlen (…), die der Seelenwanderung des Individuums sozusagen Körperhaftigkeit geben und das Los des wandernden Organismus beschreiben. Es scheint daher keineswegs ausgeschlossen, dass dieser Lehrsatz ursprünglich nichts mit der Frage der Wiedergeburt zu tun hatte.“ Von daher ist also mit Blick auf die frühesten buddhistischen Quellen sogar eine Lehre ohne Wiedergeburt, also ohne Wiederwerden oder gar „Seelenwanderung“ denkbar. Es bleibt die den Menschen im Allgemeinen zugängliche, recht banale Erkenntnis, dass Taten (Karma) Konsequenzen haben (können). Meister Lin-chi (gest. 866) behauptete einmal gar, wer die sechs Haupttugenden praktiziere, schaffe so nur Karma. Der Buddhismusforscher Youru Wang sieht in dieser Aufhebung des Unterschieds zwischen gutem und schlechtem Karma die Voraussetzung für das Entfalten vollen ethischen Potentials, des „Trans-Ethischen“ oder „Para-Ethischen“. Der heute wieder gern gelesene Dogen Zenji (1200-1251) kommentierte einst trocken: „Was ist das schlimmste Karma? Es ist, Kot oder Urin auszuscheiden. Was ist dann das beste Karma? Es ist, früh am Morgen Haferschleim zu essen und mittags Reis, am frühen Abend Zazen (Sitzmeditation) zu machen und um Mitternacht schlafen zu gehen.“

 

Die Auffassung vom bedingten Entstehen vermittelt dem Buddhisten ein Gefühl, das „alles mit allem zusammenhängt“. Dass nichts aus sich und unabhängig vom anderen existiert ist die Voraussetzung für die Idee, die Phänomene und Wesen seien an sich „leer“, in ihnen lasse sich keine Essenz oder Substanz finden. Dieser Gedanke könnte einen Buddhisten paradoxerweise im Idealfall eine besonders starke Verbundenheit mit allen belebten und unbelebten Dingen dieser Welt empfinden lassen. Doch längst liegen gegenteilige Erkenntnisse aus Studien vor, nach denen etwa schon Babys unter dem Einfluss einer Religion weniger altruistisch sind als die areligiös erzogenen. Und Erwachsene? Weder dezidierte Verhaltensregeln noch die Erkenntnis, wie in einem Netz aus vielen Knoten mit allem verknüpft zu sein, können verhindern, dass Gläubige sich im Schnitt weniger ethisch verhalten als Atheisten.

 

Wir haben schon bei Shen-hsiu gelernt, dass auch die Sitzmeditation nicht über Kritik erhaben ist. Awa Kenzo (1880-1939), Meister des Bogenschießens, sagte: „In Wirklichkeit ist die Übung unabhängig von jeder Körperhaltung.“ Dabei ist das japanische Bogenschießen ebenso ritualisiert und formgebunden wie die Zen-Meditation. Meister Hakuin (1686-1769) wies in die gleiche Richtung: „Die Zen-Übung, die man innerhalb seiner Handlungen vollzieht, ist derjenigen, die man in der Stille praktiziert, millionenfach überlegen.“ Einige Lehrer haben also bereits auf die erwachte Haltung eines Adepten hingewiesen, in der nicht mehr der still-passive Rückzug in eine fixe Körperhaltung, sondern das aktive Handeln – im Geiste einer solchen Haltung, also mit der Fähigkeit, an keinem Phänomen und keinem Gedanken zu haften – im Vordergrund steht. Im Gegensatz dazu hält die heute populäre Zen-Linie von Dogen Zenji sich an dessen Credo, dass alle Meister durch jene Sitzmeditation, das Zazen, erwacht seien und dieses kein Mittel zum Zweck, sondern Erleuchtung selbst darstelle (jap. shûsho-itto). Das Problem dieser momentan dominanten Auffassung des Zen ist, dass eines unter vielen „geschickten Mitteln“ (skt. upaya) der buddhistischen Lehre als pars pro toto steht und folglich nicht von ihm gelassen werden kann. Derselbe Lehrer versteifte sich auch auf andere Thesen, etwa die, dass das Mönchstum dem Laientum überlegen sei. Damit entfernte er sich von der Überlieferung des „Sechsten Patriarchen“ Huineng, der den Mönchsstatus als bedeutungslos ansah, da nur die Praxis zähle – womit er die reine Geistesschulung des nicht-anhaftenden, nicht-wertenden Denkens meinte und nicht auf das Sitzen als Form abhob: „In dieser meiner Lehre bedeutet ‚Sitzen‘, überall ohne Hindernis zu sein und unter allen Umständen keine Gedanken zu aktivieren.“ Zwar sah auch Dogen in ethischem Verhalten eine Folge des Erwachens, jedoch die Gebote schon im Zazen selbst verwirklicht (da ein sich seiner Gedanken Bewusster, der regelgemäß in Versenkung saß, nicht gegen die Regeln verstoßen könne), was einen sophistischen Beigeschmack hat. Erst in jüngeren akademischen Arbeiten wird der Irrtum vieler Praktizierender aufgeklärt: Dogen habe Sitzen auf mehrere Weisen begriffen, als körperliches wie auch als „geistiges Sitzen“, das in jeder Haltung möglich sei; erst wenn der Übende weder an körperlichen noch geistigen Phänomenen hänge, sei er befreit und – ein berühmtes Zitat Dogens – „Körper und Geist abgefallen“. In einer solchen Versöhnung von Huinengs und Dogens Ansicht besteht eine weitere Chance, Zen aus einem formalen Korsett zu lösen und – ohne Verweise auf religiösen Überbau – als Geistestraining zugänglich zu machen.

 

Zen wurde in den letzten Jahrzehnten von etlichen Skandalen erschüttert, allen voran Vorwürfe sexueller Übergriffe und illegitimer Bereicherung von Lehrern. Die schiere Unmöglichkeit, in eine etablierte Zen-Linie aufgenommen zu werden und einmal selbst den Meisterstatus zu erlangen, wenn man sich nicht zeitweise selbst einem Lehrer unterwirft, lässt die übenden Gemeinschaften oft zu solchem Fehlverhalten schweigen. Deshalb ist hier die Frage zu stellen, ob nicht das Zen in seiner Geschichte – so wie es, wie bisher gezeigt, seine eigenen Regeln und selbst die Meditation nicht als unabdingbar darstellte – vielleicht auch die Abhängigkeit vom Meister längst in Frage gestellt hat. Und in der Tat, hierfür gibt es hinreichende Belege. Laut Tenkei Denson (1648-1735) war nicht die Übung bei einem Meister ausschlaggebend, sondern die Erlangung der Erleuchtungserfahrung, die auf mannigfache Weise angeregt sein kann. Das Siegel der Erleuchtung sei das Selbst. In der Begegnung des Selbst mit dem „ursprünglichen Antlitz“ des Selbst werde die Erleuchtung erfasst. Das gesamte Universum könne diese Intuition bewirken, in der Berührung mit Sonne, Mond und Sternen, mit Bäumen oder Gras der Mensch sein Selbst erfassen, im Selbst des wahren Dharma (der wahren Lehre) inne werden. Dies könne mit Hilfe eines Meisters geschehen, aber auch in ureigenster Erfahrung. „Selbstbewirkt ist Befreiung nicht das Geschenk eines Lehrers. Ich habe mich bei meiner Übung nicht der Fürsorge eines Lehrers anvertraut. Entschlossen, allein voranzuschreiten, habe ich keinen Begleiter.“ So spricht gar ein „König Langleben“ in seinem Sutra. Enni Ben’nen (1202-1280), ein Zeitgenosse Dogens aus der Konkurrenzlinie des Lin-chi, sah den Begründer des Zen, Bodhidharma, als Selbsterwachten an. Das Gleiche muss man von Shakyamuni Buddha behaupten.

 

Wir können festhalten, dass Zen (Chan) schon in der frühesten Entwicklungsphase seine eigenen Wurzeln im Buddhismus dekonstruierte. Durch seine Skepsis gegenüber Worten und seine Übungsmethode des Nicht-Anhaftens an Gedanken wurde nicht nur die Nachrangigkeit von Geboten und einem Achtfachen Pfad nahegelegt, sondern auch jegliches Konzept vom Karma bis hin zum bedingten Entstehen in Frage gestellt. Schließlich wurde selbst die Sitzmeditation als „geschicktes Mittel“ aufgefasst und somit Buddhismus bzw. Zen nur noch als reine Geistesübung des vollständigen Loslassens und Bewusstsein der Leere aller Phänomene begriffen. So ist es möglich, dass sich heute die Kernlehre des Zen ohne jegliche Dogmen und Äußerlichkeiten wie Roben und Rituale verwirklicht, indem der Übende den angestrebten Geisteszustand bei seinen Alltagshandlungen aufrecht erhält und in jedem gegenwärtigen Moment neu manifestiert, wobei er zentrale Tugenden wie die Gebefreudigkeit verwirklicht. Diese Fähigkeit kann er sich sogar selbst aneignen, denn ein Meister ist nicht zwingend erforderlich. Es bleibt die Frage, ob ein solches Zen ohne religiöses Korsett, also etwa auch ohne Zeremonien und Rezitationen wie bei Totenfeiern, das Bedürfnis der Menschen nach Trost befriedigen kann.

 

 

© Guido Keller, 2020


 

Literatur:

 

Jeffrey Broughton: The Bodhidharma Anthology: The Earliest Records of Zen. (Berkeley 1999)

Thomas Cleary: Stopping and Seeing. A Comprehensive Course in Buddhist Meditation. (Boulder 1997)

Edward Conze: Buddhistisches Denken (Frankfurt 1988)

Jean Decety et al: The Negative Connotation between Religiousness and Children’s Altruism across the World”, in: Current Biology (08/2019)

Dogen Zenji: Eihei Koroku (Frankfurt 2017)

W. M. Gervais et al: “Global evidence of extreme moral distrust of atheists”, in: Nature Human Behaviour 1/2017.

Steven Heine: Dogen and Soto Zen (Oxford 2015)

Yasuhiro Kanakogi et al.: Rudimentary Sympathy in Preverbal Infants: Preference for Others in Distress”, in: PLoS One 8/2013.

Walter Liebenthal: Chao lun – The Treatises of Seng-chao (Oxford 1969)

John McRae: Seeing through Zen (Berkeley 2004)

Kaiten Nukariya: Die Religon der Samurai: Eine Studie der Philosophie und Praxis des Zen in China und Japan. (Frankfurt 2017)

“Shen-hui and the Teaching of Sudden Enlightenment in Early Ch’an Buddhism”, in: Peter N. Gregory: Sudden and Gradual: Approaches to Enlightenment in Chinese Thought (Honolulu 1987).

Dominique Side: Buddhismus. Ein Grundlagenwerk für Lehrende, Lernende und alle Interessierten. (Berlin 2017)

Junjiro Takakusu: Grundzüge buddhistischer Philosophie (Frankfurt 2013)

Youru Wang (Hg.): Deconstruction and the Ethical in Asian Thought (London 2007)

 

[Die Umschrift von Fremdworten und Namen wurde vereinfacht und auf diakritische Zeichen verzichtet.]

 


Der Mond am strahlenden Tageshimmel - ist das nicht immer wieder faszinierend?

Kommentare

  1. Lieber GiDo, schöne Zusammenfassung, besten Dank! Ich lese Deinen Blog sehr gerne, scheue aber immer vor der Kommentierung zurück, weil da so viel sinnlose Selbstoffenbarung drin steckt. Ich hab dies gelesen, ich hab jene Meinung, mein Lehrer sagte mal..... siehste, geht schon los. Freue mich, wenn du weitermachst.

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    1. He, Du redest von mir, so ein Kommentator bin auch ich ;-)

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  2. Hallo GiDo

    danke für diesen Beitrag. Beim lesen kam mir u.a. Gerhard Polts "Bootsverleiher" in den Sinn
    https://youtu.be/PVsUozOr1lE?t=998
    oder seine Aussage. Die Religion liebt die Menschen.



    Gruss

    Patrick

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  3. Schöner Artikel GiDo! Aus meiner bescheidenen Sicht ist es letztlich die Mischung aus formaler Praxis und unserem Leben, wenn wir in selbigem wirklich gewahr sind ... :)

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  4. Ja. Und danke allen fuers Feedback.

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  5. Es gibt keine sinnlose Selbstoffenbarung, nur Selbstoffenbarung ohne Sinn (und Zweck) ;-)

    Patrick

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  6. Das Fazit erinnert mich doch sehr an Jiddu Krishnamurti: Es gibt keine Methode, keinen Weg und erst recht nicht Rituale und Organisationen, die den Weg zum "Erwachen" ebnen; wahre Praxis findet im Alltag statt. Würde mich über ein Youtube Video bzgl. Krishnamurti (gleichfalls UG) freuen. Dank dir für deine Inspirationen, Guido.

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  7. Hallo!
    Ich kann dir nur zustimmen.
    "Leere Weite, nichts Heiliges" - was ist dem noch hinzuzufügen?
    Eine ganze Menge: Roben, Rituale, Lehrer, Lehren und Trainingsmethoden werden den Interessierten angeboten.
    Und ja, der Adept hat dann was, woran er sich festhalten kann, obwohl er doch aufbrach, um loszulassen.

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  8. Die Videos von einem A. Mueller interessieren mich nicht. (Antwort auf Patrick)

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  9. Moin Guido,

    sehr gelungener Beitrag. Ich habe eine ähnliche Auffassung vom Zen wie Du, praktiziere allerdings auch 2x täglich formale Meditation. Für mich selbst ist das Fließen-Lassen und Nicht-Anhaften hier am ehesten "zugänglich". Natürlich muss dem aber eine Integration in den Alltag erfolgen. Denn nur der Alltag ist m.E. der ultimative Gradmesser, nicht das Kissen.

    Wie schon das ein oder andere Mal auf deinem YouTube-Kanal erwähnt, empfehle ich Dir die Bücher von Dietrich Roloff. Eure Ansichten sind sicherlich nicht vollkommen deckungsgleich, aber ihr blast ins gleiche Horn...

    Alles Gute! =)

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  10. Letztlich ist es die Frage, was man unter Religion versteht. Ist es ein Zurückbinden an das Eigentliche, an das Ganze, an das Lebendige, dann ist Leere Weite und das was du beschreibst, für mich Religion. (Aber ich würde den Begriff des Selbstes hinterfragen).

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