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Das Karma-Verständnis im frühen Chan

Den Philosophieprofessor Robert Zeuschner (geb. 1941) werden einige Leser noch nicht kennen. Er ist u. a. literarischer Nachlassverwalter von Edgar Rice Burroughs, dem Erfinder von „Tarzan“! Im Jahr 2000 erschien seine vergleichende Studie Classical Ethics, East and West. Hier interessiert uns nun aber ein Beitrag aus dem Jahr 1981, auf den ich mit Freuden stieß, weil er schön übersichtlich die Texte der ersten chinesischen Chan-Patriarchen zum Karma zusammenstellt: „The Understanding of Karma in Early Chan Buddhism“, in: Journal of Chinese Philosophy 8 (1981). Zeuschner fiel die recht freie Interpretation des Karma durch japanische Zen-Meister auf, und er fragte sich, ob schon im chinesischen Chan eine solche vorhanden war. Zunächst klärte er deshalb das indische bzw. übliche Verständnis des Begriffes. Wir kommen darauf ggf. vergleichsweise zurück, wenn wir die Unterschiede im Chan benennen.

Zeuschner sieht Chan als das einzigartige Ergebnis verschiedener Einflüsse: 1) die Pranaparamita-Literatur und das damit verwandte Madhyamika-Denken Nagarjunas; 2) das (Proto-)Yogacara und die Vorstellung des Tathagatagarbha wie im Lankavatara- und Nirwana-Sutra und im Ch’i-hsin lun („Erwachen des Glaubens“) ausgedrückt; 3) taoistischer Ideen wie bei Chuang-tzu. Dazu kommen Impulse aus der Tientai- und Huayen-Schule, aus dem Yüan-chüeh ching („Sutra des Vollkommenen Erwachens“) und der chinesischen Version des Shurangama-Sutras.
Nun wird nach Textbeispielen der ersten Chan-Patriarchen gesucht. Für Bodhidharmas Ideen steht das Erh-ju ssu-hsing lun („Abhandlung zu den Zwei Eingängen und Vier Übungen“). In diesem Text wird Karma zwei Mal erwähnt. 

     a)  „Karma wird in Übereinstimmung mit dem Geist (hsin) geschaffen.“ 
   b) „Der Mönch fragte: ‚Wenn der anhaftende Geist Karma erzeugt, wie kann man es abschneiden?‘ – Bodhidharma antwortete: ‚Dank des Nicht-Geistes (wu-hsin) besteht keine Notwendigkeit, Karma abzuschneiden. Dieser Geist entsteht weder, noch wird er zerstört. Es sind irrige Gedanken, die die Phänomene (dharma) erzeugen.‘“

Unter a) wird hier laut Zeuschner die bekannte Behauptung unterstrichen, dass es willentliche Gedanken sind, die bereits Karma erzeugen. Unter b) heißt es, dass jede Absicht Karma erzeugt, selbst jene, mit der man Karma eliminieren will. Der Ausweg ist Nicht-Geist.

Dem zweiten Zen-Patriarchen Hui-k’o (487-593) werden keine Texte zugeschrieben. Seng-tsan (gest. 606, ich halte mich bei der Umschrift der Namen an meine Vorlage), dem dritten Patriarchen, wird noch immer (fälschlich) das Hsin-hsin ming (jap. Shinjinmei) angedichtet, in dem sich jedoch keine expliziten Passagen zum Karma finden. Stattdessen geht es um die Nicht-Dualität des erwachten Geistes, der frei von Konzepten ist. In einer biografischen Notiz der Chronik Li-tai fa-pao chi wird dem vierten Patriarchen Tao-hsin (580-651) eine Anmerkung nachgesagt:

„Im P’u-hsien kuan-Sutra heißt es: Die Ozeane aller karmischen Hindernisse entstehen allesamt aus falschem Denken. Wenn du Buße tun willst, solltest du aufrecht sitzen und über den wahren Charakter von ‚dem, was ist‘ nachsinnen. Dies nennt man die höchste Wahrheit.“

Auch hier ist also die Quelle des Karma mit irrigen Gedanken bezeichnet, die tatsächlichen Auswirkungen desselben werden nicht behandelt. Auf Hung-jen (601-674), den fünften Patriarchen, geht wohl ein Text zurück, den man in den Höhlen Dunhuangs fand, das Hsiu-hsin yao-lun („Abhandlung zu den wesentlichen Aspekten beim Kultivieren des Geistes“). Dort beschäftigen sich drei Passagen mit Karma:

a)      „Einer fragte: ‚Wie kannst du wissen, dass Geistesbewusstsein nötig ist, um ins Tao (Erleuchtung) einzutreten?‘ Hung-jen erwiderte: ‚Bloß einen Finger zu heben, um ein Bild Buddhas zu malen, genügt bereits, so viel Verdienst anzusammeln wie es Sandkörner am Ganges gibt. Jedoch könnte man dies für eine Lehre Buddhas halten, die er einfältigen unerleuchteten Wesen gab, damit sie günstige karmische Bedingungen schaffen und die Buddhaschaft (in sich selbst) erkennen können.‘“
b)      „Wenn du Begierden hegst und nach Ruhm und Vorteil suchst, wirst du inmitten der Hölle fallen, dir werden alle Arten von Schmerz und Leiden widerfahren.“
c)      „Wer seinen wahren Geist klar versteht, nicht aus den Augen verliert und dabei fühlende Wesen zur Befreiung führt, ist ein äußerst mächtiger Bodhisattva! Achtsamkeit im Geist zu bewahren ist wesentlich. Wenn du in deinem Leben nicht das Leiden der anderen hörst, wirst du gewiss zehntausend Äonen (kalpa) lang Unglück ernten.“

Hung-jen scheint also an ein Karma mit Auswirkungen auf spätere Leben und an eine Hölle zu glauben. Dazu passt auch eine (vom Autor des Essays aber nicht verifizierbare, sondern aus Sekundärquellen zitierte) biografische Notiz über ihn: „Hung-jen war in seinem früheren Leben Abt. Nach seiner Neugeburt (transmigration) wurde er unbefleckt von einer Frau namens Chou aus der Provinz Hupei empfangen.“ Hung-jen akzeptiert die physischen Auswirkungen karmischer Vergeltung, doch betont er wie seine Vorfahren die Rolle des Geistes, ohne heutige Vorstellungen von Schuld, Unglücklichsein, zwanghaften Handlungen usf., also die psychologische Ebene, zu kommentieren.

Nach dem fünften Patriarchen teilte sich das Chan in die Schule Hui-nengs (638-713) und Shen-hsius (606-706), allgemein als Süd- und Nordschule bezeichnet. Letzterem wird das Kuan-hsin lun („Klare Beobachtung des Geistes“) zugeschrieben, mit mehreren Hinweisen aufs Karma:

a)      „Der befleckte Geist denkt ständig Böses und erzeugt so übles Karma. Wenn es dir so ergeht und du dessen Verstrickungen ersehnst, kann man dich einen gewöhnlichen Menschen nennen, der die Drei Reiche durchwandert und Schicht um Schicht Leiden (dukha) anhäuft.“
b)      „Alles Leiden kommt von den Drei Giften Gier, Wut, Täuschung. Aus der Wurzel dieser Gifte entsteht alles böse Karma.“
c)      „Aufgrund dieser Drei Gifte werden alle Wesen in Körper und Geist aufgeregt und wandern im Reich von Geburt-und-Tod umher, transmigrieren die sechs karmischen Bestimmungsorte, erfahren Leiden und Schmerz.“
d)      „Die Drei Reiche karmischer Vergeltung entstehen bloß aufgrund des Geistes. Wenn du frei von diesem Geist bist, dann auch von den Drei Reichen. Selbstsüchtiges Sehnen ist das Reich der Begierde, Wut das Reich der Form, Täuschung das Reich der Formlosigkeit. Aufgrund dieser drei Geisteszustände häuft man alle üble karmische Vergeltung an und durchwandert unablässig diese Zyklen.“

Shen-hsiu führt also auch Wut, Begehren und Unwissenheit als Ursache von Karma an sowie dukha als eine Transmigration im Kreislauf von Geburt und Tod als Folge. Desweiteren führt er dann die sechs karmischen Bestimmungsorte auf (wie das Reich der Halbgötter, Hungergeister etc.) und bei welchem Verhalten welche Existenz droht. Insofern scheint er klassischen Vorstellungen anzuhängen. Relativiert wird dies jedoch in seinen metaphorischen Interpretationen der wiedergegebenen Worte:

„Was der Buddha als die drei großen Zeitalter (kalpa) beschrieb, sind einfach die drei Geistesgifte. (…) Aus diesem dreifach vergifteten Geist stammen üble Gedanken so zahlreich wie die Sandkörner des Ganges. Gedanke für Gedanke kann dabei für ein kalpa gehalten werden.“

Von daher bleibt unklar, ob Shen-hsiu überhaupt ein wörtliches Verständnis und damit zukünftige Leben und dahin reichende Vergeltung für möglich hielt. Dies gilt auch für folgende Chan-Meister.

Huineng hat in dem ihm (fälschlich) zugeschriebenen Plattform-Sutra einer Bemerkung Shen-hsius – „Wenn es da ein gewichtiges Hindernis in meinem vergangenen Karma gibt, kann ich den Dharma nicht erlangen“ – hinzugefügt: „Auch ich will dies rezitieren, damit ich den Grundstein für meine nächste Geburt in einem Buddhaland schaffe.“ Huineng scheint also ebenfalls der Transmigration zuzustimmen: „Wer nicht erleuchtet ist, wird viele Zeitalter lang im Kreislauf der Wiederkehr gefangen sein.“ Doch auch er relativiert dies durch folgende Deutung:

„Wenn du Böses denkst, trittst du in die Hölle ein, wenn du Gutes denkst, in den Himmel. Wenn du ans Schädigen denkst, wirst du dich in ein wildes Tier verwandeln; denkst du mitempfindend, wirst du ein Bodhisattva. Der Wandel deiner eigenen Natur ist extrem, doch ein Getäuschter ist sich dessen nicht bewusst.“

Hier deutet sich ein momentaner, sofortiger Wandel in einen Wilden oder einen Bodhisattva an, die karmischen Folgen scheinen von Augenblick zu Augenblick zu wirken, die sechs Bestimmungsorte wären dann zwar abhängig von Weisheit oder Wut, nicht jedoch von Wiedergeburten. Dies deckt sich mit dem Satz aus dem Vimalakirti-Sutra: „In einem einzigen Augenblick werdet ihr geboren, altert, sterbt, transmigriert, reinkarniert.“

Gleiches findet sich bei Huinengs bekanntestem Schüler Shen-hui (670-762). So heißt es über ihn: „Seine Worte hatten die größte Wirkung auf die verdutzte Versammlung von Mönchen und Laien, die sich sagte, dass es sich bei ihm um einen späten Körper (eine Inkarnation) von Bodhdiharma handeln müsse.“ Shen-hui spricht selbst im traditionellen Sinn: „Wenn du nicht die vollkommene Sittlichkeit beachtest, wird du nicht mal im Körper eins Schakals wiedergeboren.“ Dann gibt es diese Anklänge an Bodhidharma:

„Frage: Wenn einer die Natur des Menschen erkennt und dann Täuschung (avidya) entsteht, kommen dann auch die Fesseln des Karma auf?
   Shen-hui: Selbst wenn Täuschung entsteht, gäbe es keine karmischen Fesseln.
   Frage: Wie kann es sein, dass einer kein Karma mehr erzeugt?
   Shen-hui: Erkenne einfach die ursprüngliche Natur, die rein und klar und nicht erlangbar ist, dann entstehen keine karmischen Fesseln mehr.“

Weiter antwortet Shen-hui auf eine Frage zum Diamantsutra und dem „üblen Karma aus früheren Leben“:

„Das üble Karma früherer Existenzen ist eine Metapher (yü) für den Geist, in dem zuvor irrige Gedanken entstanden sind.“

Wie bei Shen-hsiu und Huineng ist also auch hier von einem wörtlichen Verständnis der überlieferten Karma-Lehre abzuraten. Weitere Hinweise finden sich über Shih-t’ou Hsi-ch’ein (700-790), der noch kurz vor dessen Tod Huineng aufsuchte und später unter Ch’ing-yüan Hsing-ssu (gest. 740) seine Übung fortsetzte:

„Geist ist Buddha. Manche sprechen vom Geist Buddhas als erleuchtet und vom Geist gewöhnlicher Menschen als befleckt. Das sind unterschiedliche Namen für das eigentlich Selbe. Ihr müsst verstehen, dass euer eigener Geist vollkommen spirituell ist, gänzlich frei von den Häresien der Auslöschung oder des Ewigkeitsglaubens. Seine Natur ist weder rein noch unrein, er ist tiefgründig und vollkommen. Das gilt für Gewöhnliche wie für Weise. Seine Funktionen sind unermesslich, er ist frei vom Konzeptemachen und von Erklärungen. Die Drei Reiche von Begierde, Form und Formlosigkeit und die sechs karmischen Bestimmungsorte sind bloß Erscheinungen in eurem Geist, wie der Mond in einer Pfütze, oder wie Bilder, die in einem Spiegel reflektiert werden.“

Shih-t’ou bezeichnet explizit die karmischen Bestimmungsorte als Erscheinungen (hsien) des eigenen Geistes.

Zeuschner fasst zusammen, dass sich in diesen frühen Texten des Chan zwar Hinweise auf ein traditionelles Karma-Verständnis finden, jedoch keine Auswirkungen auf den physischen oder psychologischen Bereich erörtert werden (etwa durch das Erzeugen von Gewohnheitstaten, Schuld oder gar Zwangshandlungen). Vielmehr seien die Zitate auf indischen Texten wohl dazu gedacht gewesen, die Zuhörer von üblen Taten abzuhalten, und es wurde lediglich auf unmittelbare Konsequenzen oder auf die Inkarnation in die sechs karmischen Bestimmungsorte hingewiesen. Betont wurde jedoch stets die Funktion des Geistes, ein reiner Geist schafft karmisch folgenlose Handlungen, und in diesem ist auch kein Platz für die Suche nach Erleuchtung. Wenn ein Erwachter aber die Dinge als leer erlebt, fasst er die Welt nicht-dualistisch auf und kann weder dem Handelnden noch der Tat (karma) eine Essenz abgewinnen. Dies spiegelt sich später im Lin-chi lu wider:

„Wenn es etwas durch Praxis zu erlangen gäbe, wäre es nur das Karma von Geburt-und-Tod. Den Buddha und Dharma suchen bedeutet bloß, Höllenkarma zu erzeugen. Das Gleiche gilt für den Wunsch, ein Bodhisattva zu werden, oder fürs Lesen von Sutren. Wenn ich hingegen auf die vergangenen zwölf Jahre zurückblicke und mich frage, ob ein einziges Ding die Natur von Karma hatte, dann finde ich da nicht mal was in der Größe eines Senfkorns.“

Im Zustand des Erwachten sind Konzepte wie Karma also nicht mehr tauglich für den Umgang mit dem, was ist (tathata, Soheit). Es darf nicht verwundern, dass sich die Meister des frühen Chan einem eindeutigen Karma-Konzept verweigerten, da ein Kern ihrer Lehre darin bestand, jede Konzeptualisierung aufzulösen.
                                                   
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