Im frühen 20. Jh. wurden in Tun-huang (China) zahlreiche
Schriften gefunden, die zwischen 750 und 780 entstanden sein sollen und uns
einen klareren Blick auch auf das frühe Chan erlauben. Was Bodhidharma angeht,
so soll auf ihn nach heutiger
Erkenntnis nur die kurze Schrift Erh-ju ssu-hsing
lun („Zwei Eingänge
und vier Übungen“) zurückgehen, verfasst von T’an-lin, wohl ein Schüler Hui-k’os.
Bodhidharmas Lehren drehen sich vor allem um die – nicht strikt definierte –
Sitzmeditation[1]
(„Wandbetrachten“[2],
chin. pi-kuan 壁觀 und „Geist stillen“, chin. an-hsin
安心) sowie um das Lankavatara-Sutra.
Die Struktur des Textes erinnert jedoch an das Shrimala-Sutra. Der erste der beiden Eingänge durch Prinzip (li-ju) und Praxis (hsing-ju)
verweist auf das Erwachen durch die Lehre, was einen tiefen Glauben beinhaltet,
dass alle Wesen eine identische wahre Natur (chen-hsing) haben, die von
Befleckungen bedeckt ist. Wenn man zur Wirklichkeit erwacht und konzentriert im
„Wandbetrachten“ (der Meditation) verweilt, ohne schriftlichen Überlieferungen
anzuhängen, stimmt man mit dem Prinzip überein. Die vier Praktiken sind: 1) erlebte
Verletzungen als Folgen eigener schlechter Handlungen in der Vergangenheit
geduldig zu ertragen; 2) sich den Umständen anzupassen, d.h. auch glückliche
Fügung als Folge entsprechender Taten in der Vergangenheit und als vergänglich
anzusehen; 3) nach nichts zu suchen (und entsprechende Gedanken zu beenden); 4)
mit dem Dharma/der Lehre übereinzustimmen, in eingeborener Reinheit (hsing-ching)
frei von Geiz (wu-chien) zu sein, und mit Leben und Besitz
Gebefreudigkeit zu praktizieren.
Wie schon bei
Chih-i wird also auch von Bodhidharma nicht eine einzige Regel (sila)
betont, sondern die Tugenden (paramita) der Duldsamkeit und
Gebefreudigkeit. Da alle Wesen die identische (Buddha-)Natur haben, besitzt
auch kein Lehrer etwas, dass ein Schüler nicht besäße.
Aus dem Vimalakirti-Sutra stammen die Aussagen,
dass Befleckungen (klesa) nicht abgeschnitten werden müssen, um Nirwana
zu erlangen; dass alle Taten Ausdruck der Erleuchtung sein können; und dass
auch ein Bodhisattva Begehrlichkeiten zeigen kann, dabei aber unbewegt bleibt. Im Gefolge Bodhidharmas, das sich zunehmend auf dieses Sutra und Nagarjuna
stützte, wurde dies weiter ausformuliert.: „Wenn richtig und falsch
nicht aufkommen, ist die Verkörperung der Gebote rein; dies nennt man
moralische Tugend (sila-paramita).“[3] Noch
schärfer werden diejenigen kritisiert, die Folgendes denken: „‚Ich habe Übles
getan und Strafen empfangen. Wenn ich Gutes tue, werde ich hingegen belohnt.‘
Dies ist schlechtes Karma. Von Beginn an haben solche Dinge nicht existiert,
doch wer sich so erinnert und unterscheidet, der glaubt fälschlich, ein Ego
existiere.“ Auch Glieder des Achtfachen Pfades werden hiervon nicht
ausgenommen: „Jemand mit Scharfsinn hört vom Weg, ohne Begehren danach zu
entwickeln. Er erzeugt nicht einmal rechte Achtsamkeit und rechte Versenkung.“
Und: „Wer die Weglosigkeit beschreitet, lehnt die Begierde nicht ab. Denn für
den, der verstanden hat, ist Begierde begierdelos.“
Die Ethik des frühen Chan hat sich damit von
der Schwarzweißmalerei, wie sie in den Regeln für Laien und dem Verhaltenskodex
für Mönche (Vinaya) inbegriffen ist, bereits verabschiedet. Sie stellt zentrale
Thesen des Theravada zum Karma und zu den Ursachen des Leidens, wie hier die
Begierde, in Frage (um sie noch tiefgründiger zu verstehen) und wertet insbesondere
das Loslassen von Besitztümern als wesentliche moralische Praxis. Dieser letzte
Punkt wird bei der Beurteilung von Lehrern heute m.E. oft übersehen.
Leseprobe + Bestellen
Sehr amüsant liest sich ein im Netz zu findender Aufsatz von Bernhard Faure: "From Bodhidharma to Daruma: The Hidden Life of a Zen Patriarch". Der Autor verhandelt die vielfältigen Darstellungsweisen Bodhidharmas, der nicht nur als gliedlose Aufstehpuppe, sondern u. a. auch als Schutzgottheit gegen Windpocken oder für die Plazenta herhalten muss, wobei er zuweilen sogar dämonische Züge annimmt. In der japanischen Malerei- und Druckkunst ukiyo-e wird Bodhidharma auch als Frau, Kurtisane oder Transvestit dargestellt; auch in Begleitung von zwei Prostituierten - einem Mann und einer Frau - kann man ihn da bestaunen. Seine berüchtigte Standfestigkeit findet in der sexuellen Symbolik einen weiteren Ausdruck ...
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Sehr amüsant liest sich ein im Netz zu findender Aufsatz von Bernhard Faure: "From Bodhidharma to Daruma: The Hidden Life of a Zen Patriarch". Der Autor verhandelt die vielfältigen Darstellungsweisen Bodhidharmas, der nicht nur als gliedlose Aufstehpuppe, sondern u. a. auch als Schutzgottheit gegen Windpocken oder für die Plazenta herhalten muss, wobei er zuweilen sogar dämonische Züge annimmt. In der japanischen Malerei- und Druckkunst ukiyo-e wird Bodhidharma auch als Frau, Kurtisane oder Transvestit dargestellt; auch in Begleitung von zwei Prostituierten - einem Mann und einer Frau - kann man ihn da bestaunen. Seine berüchtigte Standfestigkeit findet in der sexuellen Symbolik einen weiteren Ausdruck ...
[1] Die Formulierung „dhyâna mit gekreuzten Beinen“ (ts’o-chan) ist in den Texten aus
dem Bodhidharma-Umfeld laut Broughton (siehe Fußnote 4) nur zwei Mal zu finden.
[2] John Mc Rae verweist in Seeing through Zen auf Chih-i (Zhiyi), um das Verständnis dieser „Wand“ zu erweitern: „Konzentration (chin. chih, san. shamatha) ist ‚Wandkonzentration‘ (chin. pi-ting), bei der die üblen Wahrnehmungen der acht Winde nicht eintreten können.“ Diese ‚Wandkonzentration‘ wird später von Zhanran (711-782) so kommentiert: „Ein Raum hat vier Wände, also können die acht Winde nicht eindringen … Sie werden als Metapher benutzt.“ (S. 31) In diesem Sinne stünde m. E. nicht das Sitzen vor einer Wand, sondern der konzentrierte Geist als ‚Schutzwall‘ vor Ablenkungen im Vordergrund.
[3] Siehe Jeffrey Broughton: The Bodhidharma Anthology: The Earliest Records of Zen. (University of California Press 1999).
[2] John Mc Rae verweist in Seeing through Zen auf Chih-i (Zhiyi), um das Verständnis dieser „Wand“ zu erweitern: „Konzentration (chin. chih, san. shamatha) ist ‚Wandkonzentration‘ (chin. pi-ting), bei der die üblen Wahrnehmungen der acht Winde nicht eintreten können.“ Diese ‚Wandkonzentration‘ wird später von Zhanran (711-782) so kommentiert: „Ein Raum hat vier Wände, also können die acht Winde nicht eindringen … Sie werden als Metapher benutzt.“ (S. 31) In diesem Sinne stünde m. E. nicht das Sitzen vor einer Wand, sondern der konzentrierte Geist als ‚Schutzwall‘ vor Ablenkungen im Vordergrund.
[3] Siehe Jeffrey Broughton: The Bodhidharma Anthology: The Earliest Records of Zen. (University of California Press 1999).
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