"Roshi
geht es gut, wenn man die Umstände bedenkt. Eine überwältigende Menge
an körperlichem Schmerz scheint der tägliche Zoll zu sein, den dieser
105 Jahre alte Mann zu zahlen hat, damit er am Leben bleibt. Warum
bleibt er am Leben? Er hat noch keinen Nachfolger ernannt, der seinen
Platz als Lehrer einnehmen soll. Also gibt es niemanden, der bereitsteht
und mit den Hufen scharrt, um uns jungen Männern und Frauen zu zeigen,
wie man einander liebt. Ich glaube ganz ehrlich, dass das der einfache
Grund ist. Das und die Tatsache, dass er jede Menge nahrhaften Fisch
und Seetang gegessen hat - und, wie er meint, in seinem Leben zu viele
schlimme Sachen gemacht hat. 'Nun muss ich zur Strafe am Leben bleiben.'
Diese letzte Aussage kommt der Wahrheit wohl am nächsten."
(Shozan Jack Haubner: Zen Berserker. Aurum/Kamphausen 2014)
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"Es geht also nicht darum, dass der 'Marxismus' verwirklicht werden soll. Die Theorie wird durch die Notwendigkeit der Praxis geformt; der Kampf ist an und für sich spontan und unausweichlich, er schafft auch spontan und zwangsläufig seine eigenen Vorstellungen."
(Lars Gustafsson, Jan Myrdal: Die unnötige Gegenwart. Hanser 1975)
"(...) die Negation des Seins als Mittel, Sein zu bewahren. Der Schizophrene fühlt, er hat sein 'Selbst' getötet, und das scheint den Sinn zu haben, zu vermeiden, dass Sein getötet wird. Er ist tot, um lebendig zu bleiben."
(darin zitiert aus R. D. Laing: Das geteilte Selbst. Kiepenheuer & Witsch 1974)
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Ich hatte angekündigt, einem Traum Folge zu leisten, den ich beim Tod Joshu Sasaki Roshis hatte, und dem wenigen, was schriftlich von seiner Lehre vorhanden ist, auch hier Geltung zu verschaffen. Für das Verständnis Sasakis habe ich mir Zeit genommen, da wir uns nie physisch begegnet sind. Das obige Zitat eines seiner Schüler weist wie die Gedanken zu einer "Praxis, die die Theorie formt", und dem schizophrenen Aspekt des "Selbsttötens" auf etwas hin, was m. E. unabdingbar ist, will man den Menschen Sasaki begreifen: Es ist die unerschrockene Annahme der von uns als "dunkel" empfundenen Aspekte unseres Wesens. Erst durch die Anerkenntnis der Unmöglichkeit einer moralisch "reinen" Existenz und der eigenen Fehlbarkeit wird auch die Praxis ehrlich, statt von einem Überbau aus Ansprüchen und Theorie bestimmt zu werden. Unsere Fehlerhaftigkeit wiederum muss Einfluss auf die Theorie haben und somit auch die tradierten buddhistischen Lehren verwandeln. Der Versuch, das personale Selbst in die Nicht-Existenz zu verweisen, muss dabei notgedrungen am Rande der Schizophrenie oder anderer mentaler Störungen lavieren (weshalb "Versenkung" diese bei Betroffenen verstärken kann). Eine Abweichung von der Normaktivität der Amygdala, des "Mandelkerns" in unserem Hirn, der unsere Emotionen, Ängste und wohl sogar den Sexualtrieb mitbestimmt, findet sich sowohl bei Meditierenden (Überaktivität) als auch bei Psychopathen (Unteraktivität)*. Die Kunst einer gelungenen Zen-Praxis verwirklicht sich also möglicherweise auf jenem schmalen Grat zwischen Klarheit und Verrücktheit: Mit der Verrücktheit gilt es klarsichtig zu spielen.
Im Folgenden Auszüge aus einer Rede von Joshu Sasaki zur Meditation. Sie stammt aus den 60er Jahren. Im kommenden Jahr dann mehr von ihm zu den eben angerissenen Aspekten.
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Meditation
bedeutet, den Geist zu beruhigen, oder auch die Kontemplation eines Objektes
oder Problems. In der Meditation des Mahayana will man erkennen, wer das Selbst
ist, doch die Praxis ist unterschiedlich. Einige Arten der indischen Meditation
stellen die Frage „Wer bin ich?“ und gründen darauf ihre Meditation. Wenn man
diese Frage stellt, wird das Selbst jedoch zum Objekt. Im buddhistischen Denken
ist das wahre Selbst weder Objekt noch Subjekt. Darum gilt es als töricht,
darüber nachzudenken, wer man sei. So steht der Roshi also auf der Höhe der
Torheit, weil er euch selbst bittet, diese Frage zu erörtern. Und weil ihr
dieser Bitte nachkommt, bezeugt ihr einen noch höheren Grad der Narretei.
Zu sitzen und das
Selbst verstehen zu wollen ist also streng genommen kein buddhistisches Ziel.
Der wahre Zweck besteht darin, das Selbst zu erkennen, um es zu manifestieren.
Die Wahrheit des Zen liegt darin, dass wir zu allen Zeiten unser wahres Selbst
manifestieren.
Steht nun alle mal
auf! Legt eure Hände auf die Hüften, mit den Handgelenken nach oben. Nun lacht
mal laut!
Während ihr gelacht
habt, dachtet ihr da an euch selbst? Wahrscheinlich habt ihr das ganz
vergessen. Dennoch wart ihr selbst die Person, die lachte, und niemand anderes.
Nur ihr selbst habt gelacht. Wenn ihr
nicht erkennt, dass ihr tatsächlich jederzeit euch selbst verwirklicht
und manifestiert, dann sucht ihr objektiv oder subjektiv woanders nach euch
selbst.
Zu jedem Zeitpunkt
manifestiert ihr Gott oder Buddha oder euch selbst. Die Buddhisten sagen, eure
wahre Natur sei Gottes Natur. Gottes Natur ist auch eure Natur. Gott
durchdringt eure Natur. Und umgekehrt seid ihr in Gottes Natur. Ihr seid stets
eins mit Gott. Darum seid ihr immer am Lachen und verwirklicht eure eigene und
Gottes wahre Natur.
Wenn ihr aber statt
die Erkenntnis zu bestätigen, dass ihr jederzeit Gott manifestiert, etwas
Großartiges, Äußerliches für euch erwartet, dann macht ihr euch bei dieser
Suche nur verrückt. Zen-Praxis bedeutet also hier nicht, zu studieren, was oder
wer Gott ist. Dieser Ort hier dient der Sitzmeditation, um die Soheit zu
bestätigen, dass ihr und Gott in der Tat dasselbe seid.
Wenn ihr mich
fragt, was Zen sei, werde ich folglich lachen, so wie ihr kürzlich gelacht
habt. Das ist Zen, mein Zen.
Wenn ihr morgen
früh aufwacht, steht auf, legt die Hände auf eure Hüften und lacht fünf bis
zehn Mal, das wird einen großen Teil eurer Krankheit heilen. Diese Übung ist
sogar besser als ausgedehntes meditatives Sitzen. Als Anfänger in der Meditation
wäre es für euch besser, statt lange Perioden verkrampfter Beine zu erdulden,
jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen in dieser Position zu stehen und
ungefähr zehn Mal herauszulachen. Dies ist wirklich der beste Anfang für Zen.
Wenn ihr gerade das kräftige Lachen übt, möchte ich euch fragen: „Wo ist denn
da Gott?“ Wie könntet ihr antworten? Schon beginnen euer Bewusstsein und eure
Logik zu arbeiten. Das ist das Üble. Das ist Lernen in Zeit und Raum. Es ist
nicht Zen. Lacht einfach, und ihr werdet zu verstehen beginnen!
Das Problem religiöser Menschen ist, herauszufinden, woher
Gott kommt und wohin er geht. Das ist wie mit einem Arzt, der wissen will,
woher das Blut kommt und wohin es geht. Gott wird nicht aus dem Geist geboren,
sondern aus dem Sakrum (Kreuzbein). Und er braucht eine Stelle, wo er es
verlassen kann. Diese Stelle ist das Sternum (Brustbein). Das ist die Erklärung
des Zen. Ein Arzt mag jedoch eine andere haben, er könnte Gott irgendwo in der
Brust oder im Blut ansiedeln. Im Zen betonen wir also, dass Gott die Freiheit
benötigt, hinein- und hinauszugehen, weswegen die Position von Sakrum und
Sternum so wichtig sind. Ihr mögt Gott in euch selbst bilden, doch wenn dieser
Gott nicht jederzeit frei hinein- oder hinaustreten kann, dann seid ihr in euch
nicht ausgeglichen. Darum betone ich in meinen Reden immer wieder, dass Gott
innen wie außen ist.
Die
Geschwindigkeit, mit der Gott ein- und austritt, spottet jeder Beschreibung.
Die Tatsache, dass Gott aus uns heraustritt und wieder zurückkehrt bedeutet,
dass unsere geistige Verfassung keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
benötigt. Wenn ihr an Gott in Begriffen von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft denkt, dann bedeutet dieser Geisteszustand, dass ihr Gott noch nicht
erkannt habt. Macht ihr also Zazen auf angemessene Weise, dann erkennt ihr
keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Folglich repräsentiert die rechte
Form des Zazen die rechte Form von Gott, die ihr selbst seid. Sobald ihr
überlegt: „Was soll ich denken?“, oder: „Was soll ich mit meinen Augen machen?“,
seid ihr aus dem Gleichgewicht und nicht in der Haltung der Erleuchtung.
Wir hören beim
Zazen oft Geräusche wie Hundebellen, Autos usw., doch wenn wir wirklich in Zazen
versunken sind, dann stören diese Geräusche nicht. Wir denken dann auch nicht
daran, wie sich Speichel in unserem Mund sammelt. All diese Probleme sind
vergessen, und in unserem Geist findet kein Abwägen statt. Selbst wenn eure
Augen offen sind, seht ihr nicht. Ihr vergesst das Atmen und atmet doch weiter.
Geräusche werden gehört und doch nicht gehört.
Rechtes Zazen
bedarf also einer rechten Einstellung der Sinne und einer rechten Haltung. In
der rechten Haltung wird der Kopf gerade von der Wirbelsäule gegen die Decke
aufgerichtet, so dass das Kinn sich zurückzieht. Diese Haltung erlaubt dem
Blut, frei zu zirkulieren, und der Geist wird klar. Im Zen lehnen wir eine
entspannte Kopfhaltung mit erhobenem Kinn ab. Unsere meditative Haltung erweist
einen ruhenden Geist. Wenn der Kopf in der richtigen Position ist, fallen die
Schultern natürlich nach unten. Ihr solltet entlang eurer Nase auf eine Stelle
schauen, die etwa zwei Meter vor euch liegt. Eure Sicht wird so auf einen
kleinen Halbkreis beschränkt sein, und obwohl ihr an einen bestimmten Ort
schaut, werdet ihr nichts sehen.
Kommen wir zur
Atmung. In der rechten Haltung wird Gott in eurem Sakrum geboren und tritt
hinaus und hinein mit einem Atemzug, der das gesamte Universum dreitausend Mal
umrundet. Darum halten wir unsere Nasenlöcher beim Zazen weit offen, damit Gott
frei ein- und austreten kann. Ihr habt vielleicht schon auf den Fotos
bedeutender Menschen gesehen, dass ihre Nasenlöcher weit offen und ihre Lippen
fest geschlossen sind. Wenn ihr die rechte Haltung von Mund und Nase gefunden
habt, werdet ihr spüren, wie der gesamte Kosmos eintritt, in eurem Körper
zirkuliert und ihn verlässt, und ihr werdet so den Geisteszustand erlangen, in
dem es weder Inneres noch Äußeres gibt.
Ist das Sakrum nach
vorn gerichtet und das Sternum nach oben, dann wird sich der Unterleib in einer
sehr stabilen Lage befinden, und nur in der Zone zwischen Bauchnabel und Brust
gibt es eine kleine Bewegung. Oft wird ein Übender beim Zazen von seinem
eigenen plötzlichen Seufzen überrascht. Eure Zunge soll fest gegen den Gaumen
gepresst sein, die Zungenwurzel ist sehr steif; während sanft Luft durch eure
Nase hereinströmt, gelangt nichts durch den Mund hinein. Die Ohren sollen sich
in einer Linie mit den Schultern befinden. Schließlich werdet ihr an den Punkt
gelangen, wo keine Geräusche wie Kinderstimmen, vorbeifahrende Autos usw. euch
stören werden. Ihr solltet kein Geräusch ablehnen, dass durch eure Ohren
eintritt. Versucht mal dem Schreien von Kindern zu lauschen und es zu mögen,
bis es unhörbar für euch wird.
Zu "Es ist die unerschrockene Annahme der von uns als "dunkel" empfundenen Aspekte unseres Wesens" möchte ich den Hinweis von Franklin Merrell-Wolff (http://www.franklinmerrell-wolff.com/stimulate/aphorisms/)geben.
AntwortenLöschen"Wenn also das Bewusstsein an Objekten hängt, hört die Qual von Geburt und Tod niemals auf"
Inwieweit dies auch auf Sasikis "Zen und die rechten Haltung......", zutrifft, kann wahrscheinlich jede/r in der eigenen (Zen) Praxis erfahren.
Hallo Guido, du schreibst, dass sich die "Überaktivität" des Mandelkerns sowohl bei Meditierenden, als auch bei Psychopathen finden lässt.
AntwortenLöschenIn deiner Verlinkung ist jedoch von "Hypoactiviation" die Rede, was eine Unteraktivität des Mandelkerns bezeichnet. Bei Psychopathie fehlen Teile der Großhirnrinde, während bei Schizophrenie Abweichungen bei Signalübertragung bezüglich Dopamin, GABA und Glutamat vorherrschen. Meditation kann psychotische (schizophrene) Zustände auslösen, aber sicherlich nicht zu Abbau von Hirnsubstanz führen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Psychopathie#Neurobiologie
https://de.wikipedia.org/wiki/Schizophrenie#Biologische_Faktoren
LG Reiko
Danke für den Hinweis, das ist richtig. Ich formuliere das um, ich glaube, dass in beiden Fällen eine "Fehlfunktion" des Mandelkerns - aber nur im Sinne einer Abweichung von der Norm - vorliegt, also dass die Überaktivität wie die Unteraktivität zu normabweichendem Verhalten führt.
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