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Das Verwechseln von Erwachen und moralischer Reinheit

"Es geht im Leben nicht um den Tod oder das Leiden. Sondern alleine um die Moral. Nur um die eigene natürlich! Am Ende geht es nicht um Trauer oder Glück. Sondern um richtig oder falsch. Am Ende stehen wir alleine da vor unserem Gewissen. Auf der Leiter, die Jakob in der Bibel im Traum sieht, bin ich deshalb immer nur nach oben gegangen: Es gab Niederlagen, einige sogar. Aber ich habe - in guten wie in schlechten Zeiten - immer meiner eigenen Moral standgehalten. Das Leid vergeht. Das Gewissen? Bleibt." 

( Die kürzlich verstorbene Jeanne Moreau laut SZ.de)

Im Forum "Buddhaland" wird gerade die Fundamentalkritik des Unbuddhisten diskutiert. Seit Jahren versucht er ja seinen Standpunkt in immer neuen Formulierungen verständlich zu machen (ein Schicksal, das ich gewissermaßen mit ihm teile), und diesmal hat er ihn auf folgende Thesen kondensiert: Der Dharma sei nicht rein, es gebe im Laufe der Übertragung über die Jahrtausende einen Übersetzungsprozess, der es uns kaum möglich mache noch zu wissen, was einst oder im Osten überhaupt damit gemeint war, und die Prämisse der Erleuchtung von Meistern, die diese "Wahrheit" erfasst hätten, würde dazu beitragen, dass diese sexuell übergriffig werden könnten. In einem späteren Beitrag ergänzt der Unbuddhist noch: "Eine Erleuchtung die ich behaupten muss, ohne sie in irgendeiner Form belegen zu können, kann nicht Teil eines 'schlüssigen Gedankensystems' sein"

Bei einem der ersten Kontakte mit Matthias, dem Unbuddhisten, sprach er z.B. vom Chaos als einem kennzeichnenden Element unseres Lebens, und ich stimmte ihm zu. Im Laufe der Zeit bemerkte ich jedoch, dass auch er nicht umhin konnte, bestimmte Grundannahmen des Buddhismus als gegeben zu setzen, damit seine Kritik Sinn macht, so etwa das dem Chaos ja quasi entgegengeetzte Prinzip des bedingten Entstehens (pratitya samutpada). Hier sehe ich das erste Problem, da der Blick auf das, was Buddhismus ausmacht (ob es nun eine "Wahrheit" ist oder nicht) einseitig auf den des unerwachten Schülers verengt wird, der genau wie andere im Forum (einer fragt: Kann man denn die vier edlen Wahrheiten erneuern?) den Glauben an bestimmte Wahrheiten, Wege, Lehren noch nicht als bloß "geschickte Mittel" (upaya) erkannt hat. So ist es nämlich nach einer anderen Lesart, in der nach dem Erwachen bzw. einer entscheidenden Erkenntnis Wahrheiten keine Wahrheiten mehr sind, Dogmen sich erledigt haben und tatsächlich dem Chaos ein ebensolches Existenzrecht gebührt wie dem bedingten Entstehen oder dem Karma, nämlich das einer vorübergehenden Idee, die in sich das Kennzeichen von Leerheit (shunyata) trägt - und auch dies ist nur der Versuch einer verbalen Annäherung. Einige im Forum merken natürlich nicht, dass sie in diesen Dogmen gefangen sind ("Die Grundwerte Ethik, Meditation und Weisheit sind universal" meint da jemand, ohne zu verstehen, dass man sich schon bei der Definition dieser Begriffe überwerfen kann, ihre Universalität also nicht gegeben ist). Vor Kurzem noch meinte die ansonsten kritische Tychiades sogar, man habe sich eben an den Dharma als Instanz zu halten (statt an fehlerhafte Menschen), so als wäre man sich auch nur darüber einig, was das ist.

Wenn ich hin und wieder auf die Ursprünge des Chan hinweise, dann nicht, um einen "reinen" Buddhismus oder reines Zen zu (er)finden , sondern um den hierzulande meist einseitig von Dôgen-Lektüre oder von - in der Regel selbst ernannten - Rinzai-Lehrern verwirrten Suchenden die große Bandbreite des Zen mit seinen ursprünglich revolutionären und eine eigenständige (buddhistische?) Schule begründenden Geistern nahe zu bringen. In den kommenden Monaten werde ich hier ein paar weniger bekannte Lehrer vorstellen, deren Texte sich oft in englischsprachigen akademischen Arbeiten verstecken. Einen reinen Dharma jedoch muss ich nicht behaupten, im Gegenteil ist dieser Blog eine Fundgrube von "Unreinheiten", und diese sind eines der Kennzeichen schon des frühen Chan. 

Auch Erleuchtung muss nicht, darf aber behauptet werden, wie uns zahlreiche Koan-Sammlungen und Zitate von Meistern zeigen. Hier macht der Unbuddhist den gleichen Fehler wie Kobun Chino, als der junge Steve Jobs bei ihm anklopfte und meinte, er sei erleuchtet, und Kobun von ihm einen Beweis verlangte. Ich schrieb Kobuns angeblichem Dharma-Nachfolger Vanja Palmers nach einigem Hin und Her, bei dem er wiederholt nach meinen Motiven für meine Recherche fragte, dass ich Kobun nicht für erwacht halte (und das eben Gesagte ist ein Grund dafür), woraufhin Vanja den Schriftverkehr mit mir einstellte. Tatsächlich ist die Erleuchtung des Meisters, von dem sich jemand herleitet, für dessen eigenes Selbstbild in der Regel von Bedeutung. Ich glaube jedoch, dass für denjenigen, der tatsäclich von seinem "Erwachen" überzeugt ist, also einen wie der Buddha selbst, oder der ggf. ganz traditionell "bestätigt" wurde, die Ansicht der anderen hierzu von geringer Bedeutung ist. Darum muss Erleuchtung auch nicht behauptet werden, kann aber. Darum muss sie auch nicht belegt werden (das ist eine Forderung von denen, die Deutungshoheit haben wollen - wie Kobun Chino - oder letztlich eben doch nach Gewissheiten im Buddhismus suchen), und sie muss im Zen auch nicht "Teil eines schlüssigen Gedankensystems" sein, da - wie ich oben schon sagte - m.E. Erwachen im Zen nicht alles erklärt, sondern gerade auch die Akzeptanz des Unschlüssigen beinhaltet. Mit anderen Worten sind gerade diejenigen Meister mit Vorsicht zu genießen, die behaupten, sie hätten mit dem Erwachen auf alles eine richtige Antwort gefunden.

Schauen wir uns nun genauer an, ob der Wunsch des Unbuddhisten, Erleuchtung möge Belege zur Folge haben, irgendwie erfüllbar ist. Schon befinden wir uns wieder in der gleichen Zwickmühle wie jener User, der meint, über Ethik und Weisheit könne man "universal" Einigkeit erzielen. Eine - nennen wir es mal vorsichtig - Lebensphilosophie wie das Zen, die Regelübertretungen im Kern ihrer "Heilslehre" (jenseits von Schriften usw.) ausdrücklich erlaubt, kann nicht andererseits wieder aufgrund von Dogmen widerlegt werden. Man muss nur einmal genau darauf achten, welche Spießer das auch in Foren immer wieder tun, es sind garantiert diejenigen, die auf Formalitäten herumreiten, organisierten Strukturen angehören und/oder im wesentlichen ein angepasstes Leben führen und damit beschäftigt sind, "was das so mit einem macht". 

Im Grunde ist man jedoch weithin so tolerant, dass auch Erwachte im Zen Geld, Luxusgüter und Fleisch auf der Pizza haben dürfen, denn wer mit Maßstäben etwa des Vinaya (Ordiniertenkodex) nach Lehrern sucht, wird kaum fündig werden. Die Frage, die sich - vor allem einem selbst - stellt, ist doch die, ob man von all den angenehmen Dingen auch lassen kann, also wie frei man im Umgang damit ist. Bei Besitz und Genussartikeln wird gerne darüber hinweggesehen, bei den vom Unbuddhisten gern aufgegriffenen Sexskandalen jedoch wird per se angenommen, dass diejenigen, die illegalen Sex oder legalen mit ihren Schülerinnen suchen, nicht davon lassen könnten. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass der materielle Luxus sich oft hinter den drei akzeptierten Grundbedürfnissen nach Nahrung, Wohnung und Kleidung verbirgt und der nächste Punkt auf der bekannten Bedürfnispyramide, die Sexualität, bei den Bürgern westlicher Sozialstaaten - die fast alle ein Dach überm Kopf, genug zu essen und zum Anziehen haben - den relativ größten Frust auslöst und entsprechend auch die größte Nervösität und den größten Neid. Die meisten haben nicht genug Sex oder nicht den, den sie sich wünschen. Das gilt für Buddhisten wie für Nicht-Buddhisten. Darum gehen auch die Leserzahlen bei derartigen Themen stets hoch, dieser Konflikt ist in vielen unbewältigt. Ob das bei allen in dieser Hinsicht kritisierten Zen-Lehrern so ist, bleibt die Frage, und sie ist oft ebenso wenig zu klären wie die, ob man dem Lehrer überhaupt ein Erwachen unterstellen kann. Ich habe gelegentlich darauf hingewiesen, wie Shimano und Sasaki mit den Vorwürfen umgingen und dass man daraus eine gewisse Reife ableiten kann, andere hingegen entdeckten darin nur einen weiteren Beweis von deren Soziopathie. Man sieht eben gern, was man sehen will.

Was also könnten realistische Erwartungen ans "Erwachen" - und dann an einen "Erwachten"  - sein?

- Erwachen verändert den Blick aufs Leben und die Welt, deren "Leerheit" individuell tief empfunden wird, was mit einem Gefühl "universaler" Verbundenheit einhergeht. Ich bezeichne das gern als "Schlüsserlebnis", das sich in verschiedener Intensität wiederholen kann. Im Zen heißt es allgemeinhin "satori" oder "kenshô".

Die meisten (aber nicht alle) Menschen, die solche Erlebnisse haben, suchen nach Bestätigung durch einen "Meister", einige "Meister" sind der Meinung, dass ohne ihre Bestätigung keine "Dharma-Nachfolge" und dergleichen behauptet werden könne. Nach meiner persönlichen Erfahrung finden sich viele Menschen außerhalb jedes buddhistischen Kontextes, die vergleichbare Schlüsselerlebnisse hatten, etwa Menschen, die dem Tode nahekamen (Soldaten, Kranke usw.) oder besonders tief an etwas gelitten haben ("ins Bodenlose fielen"). Der "Kontext" des Zen kann m.E. helfen, diese Erfahrungen fruchtbar zu machen, da andererseits auch eine Tendenz zum Nihilismus oder reinen Existenialismus lauert.

- Die wesentliche zu erwartende Konsequenz aus der o.g. Einsicht (die natürlich im objektiven Sinn ein Irrtum sein kann und nur jeweils subjektiv als "Wahrheit" daherkommt) ist die Fähigkeit, loslassen zu können, die sich m.E. auf natürliche Weise ergibt, aber auch konkret eingeübt werden kann. Losgelassen werden etwa Beziehungen, Besitz, Ansichten. 

Dennoch kann man um eine Beziehung "kämpfen", man kann Besitz "verteidigen" und Ansichten "vertreten". Obwohl es aber auch dem Erwachten unmöglich ist, bestimmte Formen des Leides sicher auszuschalten (etwa Körperliches oder den Verlust von geschätzten Menschen), findet er eine gleichmütigere und gelassenere Einstellung zu diesen Vorgängen als man sie gemeinhin unter Menschen beobachten kann. Anders ausgedrückt: Der Erwachte hat mehr Wahlmöglichkeiten, er kann tun und auch lassen. Je weniger er lassen kann, desto mehr verstrickt er sich in der Welt und desto weniger wird er seinem "Erwachen" gerecht. Da er jedoch weiterhin die Wahl hat (ja noch mehr als zuvor), kann er in den Augen der Allgemeinheit immer wieder als unangenehm auffallen.

- Wenn ein Erwachter zum Lehrer wird, gibt es niemanden (auch keinen namhaften Meister, keine etablierte Organisation), der dafür garantieren kann, dass dieser lebenslang auf einem hohen Niveau loslässt, also die weithin gängigen Vorstellungen von großer Empathie ohne Selbstsucht verwirklicht. Das Scheitern auf einem Gebiet bedeutet jedoch nicht automatisch, dass keine tiefe Erkenntnis auf einem anderen Gebiet vorläge. So wie ein profunder Naturwisseschaftler, der sein Fach mit neuen Ideen weiterentwickelte, vielleicht von seiner Frau geschieden wird, weil er sie im Suff geschlagen hat, so kann der Erwachte, der um die Leerheit und Verbundenheit des Lebens weiß, zuweilen so handeln, als seien ihm andere Werte wichtiger. 

Dass vom Erwachten anders als von anderen Fachleuten nicht nur die fachspezifische Erkenntnis (hier der Leere des Daseins und der praktischen Anwendung im Loslassenkönnen) erwartet wird, sondern eine tadellose Lebensführung, ist - wie ich schon oft sagte - nicht nur der Zirkelschluss der vom Unbuddhisten kritisierten "X-Buddhisten", sondern auch der in seinen Kreisen aktiven "Y-Buddhisten" selbst. Er beruht auf dem gleichen Fehler, den Tychiades macht, wenn sie irgendetwas als heilig setzt (wie den "Dharma"), also auf dem Missverständnis, die für Unerwachte gelehrte Doktrin von "edlen Wahrheiten" und "(rechtem) achtfachen Pfad" würde die reine Metapher eines edlen und unfehlbaren Heiligen (Buddha) zur Folge haben. Diese Vorstellung ist zutietst theravadisch, wird aber auch von bekannten öffentlichen Figuren wie dem Dalai Lama und Thich Nhat Hanh und deren Eigendarstellung und Wahrnehmung gestützt (wozu das Verschweigen ihrer "Fehler" gehört). Sie zeigt, wie groß auch in hiesigen Zenkreisen die Verwirrung ist. Ich publiziere demnächst das etwa hundert Jahre alte Werk des Sôtô-Professors Kaiten Nukariya ("Die Religon der Samurai"), der darauf hinweist, wie anders Zen in dieser Hinsicht ist und war, so dass noch einmal deutlich wird, dass es nicht erst einer Idealisierung durch D.T. Suzuki bedurfte, um Zen als eigenständige, originäre und originelle Form der Buddha-Interpretation zu sehen. Eines von Nukariyas Kapiteln trägt bezeichnenderweise die Überschrift "Es gibt keinen Sterblichen von vollkommener Moral". Sollte das in anderen buddhistischen Schulen nicht angekommen sein, rate ich zu kritischer Selbstbefragung.

Tatsächlich ist die sexuelle Umtriebigkeit eines (angeblich, vorgeblich) Erwachten nicht anders zu bewerten als jedweder Mangel an Loslassenkönnen, etwa von Auto, Luxusuhr, Alkohol, teurer Kleidung, Dogmen usw. Und vor allem ist sie nicht anders zu bewerten als die aller anderen (angeblich, vorgeblich) Unerwachten. Genau so macht es idealerweise unsere Justiz. Buddhisten oder Unbuddhisten jedoch, ob sie nun die falschen Ideale postulieren oder kritisieren, haben zumindest nicht verstanden, worum es Zen wesentlich geht, wenn sie von so genannten "Zen-Meistern" etwas anderes erwarten als die Vermittlung einer tiefen Erkenntnis. Diese könnten sie, wenn sie offen dafür bleiben, dann sogar bei dem ein oder anderen moralisch Korrumpierten finden. Das funktioniert nur dann nicht, wenn sie von diesem auch noch moralische Lehren erwarten, die er nicht gegeben hat (was z.B. für Sasaki gilt) und so gleich doppelt zum Opfer ihrer eigenen Projektionen werden. Dass sie diese falschen Erwartungen wiederum haben, könnte damit zu tun haben, dass sie nach wie vor unerwacht sind bzw. nicht einmal die Grundlagen des Zen begriffen haben. Ich glaube nicht, dass Sasaki sich seinerseits mit solchen Erwartungen an seine Schüler/innen plagte.

Um zum obigen Zitat des Unbuddhisten zurückzukommen, verhält es sich also umgekehrt: So lange der Unbuddhist oder sonst wer keine Erleuchtung eines anderen behauptet, muss er von diesem auch keinerlei Beweise dafür einfordern. Ist Shimano in Matthias' Augen unerleuchtet, bedarf es also keines Belegs für dessen Erwachen mehr. Diese Belege zu haben meinen ja in der Regel diejenigen, die den Lehrer als erwacht ansehen. Und die können sich genau so täuschen wie ich, wenn ich jemanden als unerwachtet ansehe. Das Erwachen selbst ist eine intime, persönliche, subjektive Erfahrung, die objektiviert sofort in die Kritik geraten kann und für die es zumindest im Zen keinen allgemeingültigen überprüfbaren Kriterienkatalog gibt (auch mein obiger Versuch ist nur provisorisch). Diesen behaupten dann auch nur diejenigen, die krampfhaft daran festhalten, irgendein Konzept von fünf oder zehn Regeln oder 48 Bodhisattvagelübden könne dies ändern. Doch selbst wenn es kein einziges Gebot, keine einzige sila gäbe, ja, selbst wenn weder Recht noch Ordnung herrschten, würde jemand, der einen anderen etwa unter Ausnutzung seiner Vorschußloorbeeren, mit Lug und Trug in Sex hineinmanipuliert, daraus nur selten etwas für den anderen wirklich Hilfreiches und Schönes machen können - und der andere würde ihn das spüren lassen, so wie seine eigene Buddha-Natur sich nicht täuschen lässt. Es sind also gewöhnlich nicht die Regeln und Gelübde, die den "guten" oder vielmehr weisen Menschen manifestieren, sondern seine empathische Fähigkeit, das Ausmaß, mit dem er das Leiden eines anderen absehen kann. Dies kann keine Regel oder Vorschrift der Welt fassen. Es gibt darum in der Zen-Tradition auch kaum Beispiele, die anhand sexueller Begegnungen verhandeln würden, dass ein Erwachter sich so zu verhalten habe, wie es sich der Unbuddhist oder andere vorstellen (abgesehen von der Abneigung gegen Heimlichtuerei). Thema ist vielmehr, ob der Schüler seine gängigen dualistischen Vorstellungen von dem, was gut und schlecht, was falsch und richtig ist, überwunden hat. Von demjenigen, dem das noch nicht gelungen ist, erwartet man im Zen jedenfalls auch nicht mehr Brauchbareres an ethischen Erkenntnissen als von anderen.



Kommentare

  1. Guter Text! Es ist sicher der entscheidende Unterschied, ob man von Dualitäten frei (Schlüsselerlebniss) oder eben be-fangen darin, er-lebt und danach ver-urteilt.
    So können die "Idole" von ihrer (unerleuchteten) "Fangemeinde" verherrlicht und eben auch verteufelt werden=Dualität.

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  2. Hi!
    Also ich finde nicht ganz den roten Faden im Text. Kannst du mir den nochmal in zwei-drei Sätzen aufzeigen?
    Für mich ist die fundamentalste Kritik die, dass ganz am Anfang ein Glaube steht: der Glaube daran, dass eine Person, hier der Buddha (bei anderen ist es halt Jesus oder sonst wer) quasi alles gecheckt hätte. Und ab dem Zeitpunkt wird alles was man selbst erlebt auf diesen Glauben hin interpretiert und wenn nötig zurechtgebogen. Insofern ist für mich die empirisch-phänomenal nicht belegbare Erleuchtung schon auch ein Dreh- und Angelpunkt. Denn wenn über tausende von Seiten von Erleuchtung gefaselt wird, alle Personen die erleuchtet gewesen sein sollen aber schon längst tot sind, oder von der einen Hälfte als solche anerkannt werden, von der anderen Hälfte nicht, und die Personen sich in ihrem Verhalten (im Guten wie Schlechten) letztlich nicht von anderen Menschen jeglicher Glaubensrichtung (inkl. "Nicht-irgendetwas-Gläubigen") unterscheiden - was soll das dann sein, eine solche Erleuchtung? (Damit wird natürlich auch die Frage nach dem Bezug zur Ethik hinfällig, das Erleuchtung ja nur ein Phantom ist, nichts Substanzielles.) Wie heißt es bei "Indianer von Cleveland" doch so schön: "Dein Christus (aka Buddha) ist ein sehr netter Mann. Aber er trifft keinen Curveball!" :-))

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  3. Tut mir leid, dass es nicht in zwei, drei Sätzen geht, vielleicht fällt mir am Ende ein kurzes Fazit ein. Deine Frage stellen sich aber wohl viele Leser hier.

    Wenn ich mal etwas vereinfache, scheint es mir zwei wesentliche Zugänge zur Religion zu geben. Der eine ist der eines Suchenden, der dann im Tradierten – und das ist meist Schriftliches wie die Bibel oder der Palikanon – Wahrheit(en) für sich entdeckt. Wir haben wohl schon von Menschen gehört, die über eine solche Art von Glauben ihr Leben besser in den Griff bekamen, etwa ihre Süchte. Und sich möglicherweise von Grund auf änderten. Dieses Potential gestehe ich einem solchen Weg zu, und es könnte vor allem auf der ethischen Ebene liegen. Dort – und in dem unausrottbaren Bedürfnis der Menschen nach Rituellem – macht traditionelle Religion wohl für viele Sinn. Auf der anderen Seite birgt sie Gefahren wie die der Heuchelei.

    Bei Lesern von Romanen hat man ja mal festgestellt, dass sie am liebsten das lesen, was sie bestätigt. Insofern ist hier schon die Frage, ob jemand tatsächlich zu einer Religion kommt, weil sie ihm die Augen öffnet, oder weil er endlich eine Bestätigung für das gefunden hat, was er/sie schon immer ahnte. Das ist jedenfalls auch bei der zweiten, vielleicht dramatischeren Art des Zugangs so, wo am Anfang ein Schlüsselerlebnis steht, das nach einer Deutung verlangt. Die Suche führt einen dann vielleicht zu Philosophie und Religion. So ging es mir. Wenn man zu dieser Gruppe gehört, ist es m.E. unwahrscheinlicher, dass man zu einem Schriftgläubigen wird (wie ich es vorher als Bibeltreuer freilich war), weil mit dem Schlüsselerlebnis bereits die Grenzen einerseits von Worten wie andererseits der Vergleichbarkeit der Erfahrung anderer mit der eigenen deutlich wurden (Motto: Ich bin Buddha, weil ich erwachen kann, aber ich muss keinesfalls das Gleiche denken oder reden wie er). In der oberen Gruppe wird eher spekuliert, während diejenigen in der zweiten Gruppe so tiefgreifende Erfahrungen gemacht haben, dass man sie – um es in meinem üblichen verschärften Ton zu sagen – nicht mehr so leicht verarschen kann.

    Vielleicht kann man in diesem Blog als Dauerleser zumindest diesen einen roten Faden erkennen, dass es m.E. sinnlos ist, in Schriften wie dem Palikanon nach einer deckungsgleichen Erklärung für das zu suchen, was im Zen als Erwachen einigermaßen angedeutet werden kann. Wenn schon, dann findet man diese Hinweise in oft viel kürzeren Schriften aus der Chan- und Zen-Tradition, die m.E. als eigene Religion oder Lebensphilosophie anzusehen ist und die im Grunde vom Palikanon weitgehend unabhängig ist. Darum wundere ich mich auch immer über die vielen Zennies in Foren, die am Palikanon als der wesentlichen Autorität festhalten, gerade eben z.B. wieder im Buddhaland, um etwa das bedingte Entstehen als ein Nonplusultra der Lehre zu kennzeichnen. Auch zu sagen, dass wir ohne all die klassisch ordinierten Zen-Meister doch gar keine Überlieferung hätten, ist diskutabel. Dann müssten wir nämlich allein drauf kommen. Dann wären eben wir die Begründer des Zen oder wie auch immer wir es nennen wollten. Erwachen geschieht m.E. immer wieder, selbst wenn es keine Schriften von Dogen oder Linji gäbe, kein Plattformsutra und keinen Bodhidharma-Mythos, würde jetzt gerade irgend jemand Metaphern und Worte für seine ganz persönliche Erweckungserfahrung finden. Er wäre sozusagen tatsächlich der Buddha (nur dass es diese Metapher dann nicht oder noch nicht gäbe, und er bräuchte auch keinen Lehrer, der ihn bestätigt). Und um in Deinem Bild zu bleiben – er müsste schon zusehen, wie er selbst den Curveball trifft.

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  4. Deshalb rechne ich mich dem Zen zu, weil ich darin so viel Inspirierendes und Tiefgründiges finde, aber nicht, weil meine eigenen Schlüsselerlebnisse es erforderten, dass ich irgendeiner bestimmten Religion wirklich angehöre. Ich bestätige Zen, nicht umgekehrt. Ich kann den christlichen Glauben oder den mohamedanischen nicht bestätigen, das machen in deren Augen andere. Aber das wäre, so verstehe ich Deine Kritik, ja nur eine inhaltliche Ebene. In Sachen Ethik ist es leichter, auch die anderen Religionen zu bestätigen, da sie sich dort ähneln.

    Auf der praktischen Ebene stellt sich also die Frage, was Erleuchtung für einen Unterschied machen soll. Genau darum kommen die Schriftgläubigen ja immer wieder auf ihre hehren Ideale zurück, und wenn sie ständig durch ihr eigenes Verhalten eher die Unmöglichkeit eines achtfachen Pfades belegen (diesen Eindruck hat man doch zumindest im Internet selbst), wird das hehre Ideal herangezogen, um damit zu entschuldigen, dass man selbst eben noch nicht so weit sei. Im umgekehrten Fall könnte dann ein Anhänger der These, Menschen seien von Grund auf bösartig, die altruistischen Taten mancher Menschen damit erklären, dass sie eben noch nicht so weit seien, ihr volles Potential zur Bosheit entwickelt zu haben. Beide Seiten sehen m.E. der Realität nicht ins Auge.

    Was ich in den letzten Wochen – und später im Jahr – hier noch deutlicher zum Ausdruck bringen will, ist, dass Erwachen m.E. erst mal nur Erwachen als ganz subjektives Schlüsselerlebnis ist. Insofern braucht man es nicht hoch zu hängen (oder kann es, wie Du, auch gleich mit dem „Phantom“-Verdacht belegen – eine sowieso im Zen nötige Technik, um nicht schon bei irgendwelchen Mini-Einsichten stehen zu bleiben). Und wenn die Legende stimmt, dass auch der Shakyamuni Buddha danach gar nichts sagen wollte, dann wünschte ich, er hätte die Klappe gehalten. Denn erst danach konnte man es durch das Knüpfen an ausformulierte Ethik – die auch immer von ihrer Zeit und ihrem Entstehungsort abhängig ist, wie wir wissen – so hoch hängen, dass Chan/Zen quasi entstehen musste, um den Leuten wieder klar zu machen, dass sie alle Buddha sein können, selbst wenn sie nicht perfekt sind. Ich denke also, dass sehr viele (wie im Buddhaland) den Fehler machen, Erwachen (als Kennzeichen des Überreligiösen) unter Generalverdacht zu stellen, solange die Einhaltung von Regeln (als Kennzeichen von Religion) nicht gegeben ist. Damit fallen sie in ein archaisches Verständnis zurück, ohne den – das ist nun natürlich wieder meine Erkenntnis – Schwachpunkt all der Chan- und Zen-Meister zu sehen, die ihren Horizont erweitert haben: Ihr Verhaftetsein in eben jenen archaischen Geflechten von Religion. Diesen Schwachpunkt gilt es heutzutage zu überwinden, darum plädiere ich für das Abbauen von Hierarchien, Ablegen von Roben und ein unhierarchisches Laienzen.

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  5. In Kürze werde ich Texte einiger früher Meister veröffentlichen. Einer davon verfasste ein Werk über die Bedeutung der guten Taten. Schaut man genauer hin, werden sie überwiegend in einem rituellen Kontext definiert, also im Rahmen von Religion. Dazu gehören dann Rezitation, Buße tun, auch Populäres wie gefangene Fische und Vögel befreien. Das würde sie zwar von Nicht-Religiösen möglicherweise unterscheiden, aber die Frage wäre, was solches Tun den anderen für einen Nutzen bringt. Der gleiche Meister engagierte sich darüber hinaus auch sozial, etwa im Brückenbau, bei der Adoption von Waisenkindern usw. Ich denke, da kommen wir dann in den Bereich, der noch heute relevant sein sollte. Du benutzt hier den Ausdruck „von anderen unterscheiden“, das ist natürlich schwierig, weil auch Christen, Muslime, Agnostiker usw. in altruistischer Weise tätig werden. Und da haben wir dann einen weiteren alten Kritikpunkt meinerseits, dass nämlich die wesentlichen ethischen Inhalte des Buddhismus sich nicht von denen anderer Gläubiger oder Nicht-Gläubiger unterscheiden. Wie könnte man da von Buddhisten in ihrem ethischen Erfolg wie in ihrem Scheitern etwas wesentlich anderes als vom Rest der Welt erwarten? Wie kann man also den Kern des Buddhismus, sein Heilsziel, das Erwachen, an etwas messen wollen, was gar nicht wesentlich buddhistisch ist, nämlich anständigem Verhalten?

    Demzufolge ist doch herauszuarbeiten, was als praktische Konsequenz des Erwachens denn nun wirklich speziell buddhistisch oder zennisch sein könnte. Wenn ich dann auf „Loslassen“ komme, deutet sich sogar hier an, dass dies einer wiederum eher allgemein mystischen Erfahrung als speziell (zen)buddhistischen geschuldet sein dürfte. Wer erwacht, also diese mystische Erfahrung von (immanenter) Transzendenz macht, lernt loszulassen. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich signifikant von seinen meisten Mitmenschen. Ich beobachte das jedenfalls andauernd, und am ehesten erkenne ich es an der weit verbreiteten Neigung, sich an Materielles zu hängen. Der asketische Religiöse meint hier, bloß der totale Verzicht – etwa aufs Töten sogar von Mücken, aufs Essen tierischer Produkte, auf Ehebruch usw. – würde Loslassen bedeuten, während das wahre Loslassen eine Freiheit gerade auch von diesen Dogmen ausmacht. Ich war mal mit einem Vegetarier quer im Land unterwegs, und mir kann niemand erzählen, dass er dank seiner Essregeln so viel Freiheit hatte wie ich. Es kann auch einer, wie kürzlich im Buddhaland, davon erzählen, dass er mit seinem Partner auf Sex verzichtet und dieser erstaunt feststellte, wie gut das sei. Mir schmeckt jedoch Schokolade immer noch, auch wenn der Verzicht darauf mir gut tut – der Genuss tut es nämlich auch, nur auf andere Weise.

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  6. Wenn es also eine praktische, unterscheidbare ethische Folge von Erwachen geben soll, dann kann sie m.E. gerade nicht darin liegen, dass man nur die schon altbekannten (immanenten) Wahrheiten moralischen Wohlverhaltens praktiziert, sondern in der Lage ist, mittels eines Erkenntnis- oder Weisheitszuwachses (sozusagen dem Einblick ins Transzendente) seinen Handlungsspielraum und somit seine Freiheit zu erweitern. Der Erwachte ist daran zu erkennen, dass er freier agiert als andere, und nicht daran, dass er moralischer im Sinne der vom Palikanon tradierten Ansichten ist. Das wäre ungefähr so bescheuert, wie gemäß des vom Buddha propagierten Heilmittels ghee, also Butter, noch heute – wie etwa im Ayurveda – auf Glauben statt auf Erkenntnis beruhende Therapien anzubieten. Wer sich für unanständig und krank hält, klammert sich an die Moral, Dogmen und Aberglaube, wer sich für frei und okay hält, kann auch unmoralisch, undogmatisch und ungläubig sein. Ich möchte darauf wetten, dass einer, der diese Erfahrung gemacht hat, nicht mehr mit den anderen tauschen will, das heißt zumindest für den, der sich das „Phantom Erleuchtung“ einbildet und der sich für befreit hält, wird das zum Selbstläufer. So erklärt sich dann auch für mich, dass einer wie Joshu Sasaki – über die weithin beliebten Kodo Sawaki, Shunryu Suzuki etc. brauchen wir wohl gar nicht zu reden – sich treu bleiben konnte, während andere Skandalisierte wie Genpo Merzel und Robert Aitken zum Opfer der Tatsache wurden, dass sie tatsächlich zur erst genannten Gruppe der Religiösen gehörten. Und die sind – das ist jedenfalls meine Erkenntnis – weder erwacht noch befreit.

    Eine andere Sicht wäre, sie alle vom Verdacht des Erwachtseins zu befreien, sie alle im Korsett einer typischen Zen-Rhetorik gefangen zu sehen und für nicht einsichtiger als den Philosphen X, den Schriftsteller Y, den Nachbar Z. Dann würde sich mir dennoch die Frage stellen, inwiefern sie jeweils für das Zen stehen, wie ich es begreife und schätze.

    Und das mag dann das kurze Fazit sein: Ich wäre ihnen dann immer noch dankbar für die Vertiefung meiner initialen Einsicht, die mich weg vom Christentum und hin zum Taoismus und dann Zen brachte, dass man Wahrheit nicht suchen muss, und dass niemand für meine Sünden am Kreuz sterben muss, sondern ich mir meinen Arsch selbst abwische.

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  7. Hi,
    danke für deine Ausführungen!
    Ich kann da verschiedene Themenkomplexe erkennen. Sicherlich ermöglichen es religiöse Lehren und Philosophien vielen Menschen, ihr Leben besser in den Griff zu kriegen; und für viele ist es bestimmt auch ein Ansporn zu einem guten - d.h. primär sozialverträglichen, normgerechten - Leben. Die Schattenseite ist natürlich die Kontrolle des Menschen durch Religion und Heilsversprechen. Wesentlich scheint mir der von dir angesprochene Aspekt der Freiheit ("Die Wahrheit wird euch frei machen."!). Und so wie du es ja auch am Beispiel des Vegetariers berichtest - die meisten Personen mit einer "festen" Ethik die ich kennengelernt habe, wirken eher weniger frei dadurch auf mich (und zwar nicht im positiven Sinne einer frei-gewählten Selbst-Bescheidung, sondern als Folge eines irrationalen Hoffens). Von da aus zum Nicht-Anhaften: das Nicht-Anhaften oder Loslassen-Können, welches du (wenn ich dich richtig verstehe) als ein Kennzeichen des Erwachens bezeichnest, würde ich auch als eine der bestmöglichen Errungenschaften aus der Beschäftigung mit buddhistischer Lehre bezeichnen. Jedoch ist gerade dieses m.M.n. auch durch die Stoa propagiert und nachvollziehbar gemacht worden. Auch hier kann ich daher keine Exklusivität buddhistischer Lehren erkennen. Und sogar hier gibt es ja nicht selten Menschen, die es völlig ohne bewussten Rückgriff auf irgendeine Lehre schaffen, den Wandel des Lebens anzunehmen, ohne da ein größeres metaphysisches oder soteriologisches Gebilde drumherum zu spinnen.
    Für mich persönlich stellt es sich immer mehr so dar, dass der Buddhismus tatsächlich einfach nur eine Lehre unter vielen ist, mit vielen interessanten und auch einzigartigen Ansätzen und Wegen, aber genauso vielen Irrwegen und Ungereimtheiten wie andere Lehren auch.
    Um es nochmal auf den Eingangstext zu beziehen: ich kann mir immer noch nicht vorstellen, was "in echt" (also ohne Rückgriff auf spekulative nächste Leben oder nicht-teilbare und diskursive nicht mitteilbare angebliche Einsichten in die "Struktur der Wirklichkeit") einen buddhistischen Erwachten einzigartig machen soll. Wenn es aber im echten, realen, konkreten Leben keine signifikanten Unterschiede gibt ("Unterschiede, die einen Unterschied machen"), dann ist sind Erwachte entweder eine Fiktion oder trivial.

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  8. (Ich werde in einem eigenen Blogbeitrag dieser Tage antworten.)

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