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Das frühe Chan und die besondere Zen-Ethik


[Im Folgenden ein Beitrag, der verschiedene Texte aus diesem Blog verbindet und auf Anfrage eines buddhistischen Magazins zustande kam, das ihn schließlich aber selbst in einer stark vereinfachten Form und ohne die Bezüge zum Machtmissbrauch für zu akademisch befand. Den vierten Teil über tibetisches Zen habe ich hier weggelassen, weil er erst kürzlich in diesem Blog zu lesen war.]

Das frühe Chan und die besondere Zen-Ethik

Teil I: Die Vorläufer Seng-chao und Chih-i

In der jüngeren Zeit sind das Fehlverhalten und der Machtmissbrauch buddhistischer Lehrer in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Dabei fiel mir auf, dass sich bei einigen Schülern (ich bitte die weibliche Form jeweils mitzudenken) auch nach der Aufdeckung von Skandalen eine unrealistische Erwartung hartnäckig hält, die zwei wesentliche Charakteristika hat: Zum einen wird auch der nächste Lehrer als etwas angesehen, der etwas besitzt, was man selbst nicht habe; zum anderen soll auch er wieder exemplarisch die wesentlichen „Gebote“ oder Regeln (sila) verkörpern, also als moralisches Vorbild taugen. Eigentlich kann eine solche Erwartungshaltung nicht überraschen, da jede Religion für sich in Anspruch nehmen dürfte, anständige Menschen zu schaffen und weise Lehrer hervorzubringen. Ich möchte mit einigen kurzen Aufsätzen zum frühen Chan (Zen) jedoch aufzeigen, inwiefern diese Schüler hier das Opfer ihres eigenen Irrtums werden – und von Beginn an das frühe Chan (ca. 600-900 n. Chr.) gegen jegliche Illusionen dieser Art vorging. Nach meinem Verständnis ist das Chan – unter philosophischem Einfluss des Taoismus – eine ethische Weiterentwicklung des alten Buddhismus, also des Theravada, ja tatsächlich eine Vertiefung, vielleicht gar besser als eigenständige Religion zu begreifen. Ich werde dies auf der Grundlage einiger akademischer Arbeiten herleiten und diese hoffentlich allgemein verständlich aufbereiten. Dabei ist mir ein Anliegen, Lehrer künftig an anderen Maßstäben zu messen als üblich und sie somit zugleich von ihrem Sockel zu holen wie auch stärker zu fordern. Dies ist eine Weise, die hier aufbereiteten Erkenntnisse in unserer Zeit fruchtbar zu machen. Ferner will ich dabei die üblichen Missverständnisse über Schulen allmählicher und plötzlicher Erleuchtung und die Überlieferung Bodhidharmas ausräumen. Ein weiterer Beitrag soll der tibetischen Überlieferung des Chan gelten. Doch zunächst zu den Wegbereitern der Zen-Ethik.

Im Allgemeinen heißt es, die „dreifache Übung“ bestehe gleichrangig aus der Praxis der Regeln (sila), der meditativen Versenkung (samadhi) und der Weisheit (prajna). Theravadin verweisen in der Regel auf Textstellen im Palikanon, die sich an Mönche richteten und in denen der Buddha etwa sagte: „O Mönche, ohne die Moral gemeistert zu haben ist es nicht möglich, die Konzentration zu meistern, und ohne diese wird man nicht die Weisheit meistern.“ (nach AN 5:22, siehe auch DN 16) Die drei Bestandteile des Achtfachen Pfades, die mit Rechter Rede, Rechtes Handeln, Rechter Lebenserwerb bezeichnet werden, sind  nach MN 44 Ausdruck von Tugend und Moral, während andere Pfadglieder der Meditation und Weisheit zugerechnet werden.

Schauen wir uns zunächst mit Seng-chao (ca. 374-414) einen Vorläufer des Chan (laut Heinrich Dumoulin) an. Dieser Gelehrte, der vom Taoismus beeinflusst war, wandte sich nach Lektüre des Vimalakîrti-Sutras dem Buddhismus zu und wurde Mönch. Als Schüler Kumarajivas half er diesem bei dessen umfangreichen Übersetzungen ins Chinesische. Am bekanntesten ist er jedoch für seine Traktate „Chao lun“, in denen er den indischen Begriffen prajna, nirvana und sunyata eine chinesische Konnotation beigab und die Madhyamaka-Philosophie darlegte. Walter Liebenthal hat das Werk ins Englische übersetzt.[1] Bereits Seng-chao unterschrieb folgende Ansichten:
   - dass es einen Unterschied zwischen letztgültiger Wahrheit (paramartha satya) und konventioneller Wahrheit (laukika satya) gibt;
   - dass Weisheit nicht – wie im Theravada – durch Meditation erworben wird, sondern angeboren ist;
   - dass Weisheit und Versenkung aber auch nicht getrennt voneinander sind, sondern beide durch Erwachen aktiviert werden;
   - dass der Weise nichts selbst erkennt oder sich denkt, sondern sich „kosmische Erkenntnis“ (chih) kosmisch manifestiert (chao);
   - dass Dinge, die in Abhängigkeit (pratitya samutpada) entstehen, nicht „wahr“ sind;
   - dass durch spirituelle Übung „auf natürliche Weise“ karmische Aktivität schwindet und Nirwana erlangt wird (pratisamkhyanirodha).

Michael Berman kommt in seinem Aufsatz “Time and emptiness in the Chao-lun“[2] zum Schluss, des Philosophen David „Humes Behauptung, dass es keine notwendige a priori-Verbindung zwischen Ereignissen und Objekten gäbe, stimmt mit Seng-chaos Folgerung einer ‚Unmöglichkeit von Kausalität‘ überein“ (wie sie ein Erwachter sähe).
   Seng-chaos Bemerkungen zu ethischem Verhalten weisen darauf hin, dass ihm bereits der Geist der Tugenden (paramita) wichtiger war als der von Geboten (sila) selbst. So schreibt er:
   „Die Herrschaft des vollendeten Wesens ist Antwort und nicht Aktion, Wohlverhalten und nicht Mildtätigkeit – so werden sein Handeln und seine Wohltätigkeit größer als andere. Dennoch wendet er sich weiter den kleinen Pflichten des Lebens zu, und sein Mitempfinden verbirgt sich in verborgenen Handlungen.“
   „Indem er seinen Glanz an den Staub des Alltagslebens anpasst, wandert er über die fünf Ebenen der Existenz. Geräuschlos geht er dahin, unbemerkt kommt er an, nicht ins Leben verstrickt und doch überall präsent.“
   „Weil ich mit der Illusion spendete, dass dies wirklich sei, handelte es sich nicht um dana. Heute bot ich dem Buddha fünf Blumen im Bewusstsein dar, dass sie ungeboren sind (anutpanna); dies kann man zurecht dana nennen.“
   Diese Feinheit, mit der aus dem Bewusstsein des „Ungeborenen“ die – im Gegensatz zu den Formulierungen in den sila – weit unauffälligeren Handlungen des Erwachten geschehen, deuten bereits einen anderen Schwerpunkt an als die „dreifache Übung“. Bemerkenswert ist auch das Betonen des illusionslosen Gebens (dana) vor allem anderen. Während die Regeln Übungen darin sind, etwas nicht zu tun (nicht zu töten, nicht zu lügen usf.), ist der Kern der Ethik hier schon ein dezidiertes Handeln als Reaktion auf die Umstände.

Der Tien-tai-Mönch Chih-i (538-597) beeinflusste mit seinem erstaunlich komplexen Hauptwerk Mo ho chi kuan („Anhalten und Sehen“)[3] das Zen und den Reines-Land-Buddhismus. Er beschäftigt sich darin vor allem mit der auch im frühen Chan propagierten Methode des Anhaltens von Gedanken: „Andauernd Versenkung zu praktizieren heißt Sehen. Das Verschwinden anderer Gedanken heißt Anhalten.“ Chih-i wertet diese Methode als die überlegene: „Menschen, die das Anhalten und Sehen nicht kultivieren können, empfiehlt der Buddha Tugenden als den Weg.“ Von hier aus ist es nicht weit zu der Erkenntnis, dass Nirwana und Samsara eins sein könnten – eine zentrale These des späteren Zen: „Die fünf Vergehen sind nichts anderes als Erleuchtung, die fünf Vergehen und Erleuchtung sind nicht-dualistisch.“ Schließlich wird Chih-i noch deutlicher: „Die Phänomene kennen keine Ansammlung, auch keine Ansammlung von Leiden; nichts wird geboren, nichts bleibt. Weil sich Bedingungen vereinen, entstehen die Phänomene, dann vergehen sie. Wenn der Geist nach seinem Entstehen vergeht, dann auch alle Fesseln und Zwänge. So versteht man: Da kann kein Übertreten sein, nichts bleibt. Es ist wie mit einer Lampe, die man in einem dunklen Raum anzündet: Die Dunkelheit kann keine Ansprüche über den Raum anmelden und sich nicht weigern zu verschwinden, nur weil sie so lange dort herrschte. So bald die Lampe angezündet wird, verschwindet die Dunkelheit.“

Hier sind also bereits zwei wichtige Entwicklungen festzuhalten: 1) Das Befolgen eines Tugendkataloges ist zweitrangig gegenüber steter Versenkung. 2) Die abwertende Betrachtung von Vergehen wird durch Erleuchtung aufgehoben. Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir von Bodhidharma und den ersten Chan-Adepten sprechen.


Teil II: Nagarjuna, Bodhidharma und Ma-tsu

Werfen wir nun einen Blick auf Nagarjuna, den von ihm beeinflussten legendenumwobenen Bodhidharma und die Hung-chou-Schule.

Nagarjuna, der im 2. Jh. lebte, beschäftigte sich in mehreren Werken mit buddhistischer Ethik, so im Bodhisambaraka, Suhrlekha und Ratnavalî. Im Mulamadyamakakarika entwirft er die Parallele zwischen gewöhnlichem Gesetz (vyavahara) und karmischer „Schuld“ (rna), womit er zugleich einen Widerspruch zwischen Gesetzgebung und Gerechtigkeit zu verneinen scheint. Das höchste Ziel (paramartha) menschlicher Freiheit – Nirwana – sei in den Transaktionen einer funktionierenden Gemeinschaft zu verwirklichen. Die Sarvastivada-Schule des Buddhismus verstand unter svabhava Unabhängigkeit und Autonomie, die Fähigkeit, aus sich selbst heraus Normen zu entwickeln und diesen zu folgen; vom Ausmaß dieser Fähigkeit hingen tugendhaftes Verhalten und das Erlangen der Erleuchtung ab, es gab Handlungen des Anhaftens und Handlungen der Freiheit. Nagarjuna suchte diesen Dualismus durch Betonen der Leere (shunyata) zu überwinden, die sich im bedingten Entstehen (pratityasamutpada) offenbare; er setzte anstelle jener individuellen Autonomie die aktionsgebundene gegenseitige Abhängigkeit und einvernehmliche Freiheit. Zunächst sieht Nagarjuna buddhistische Praxis (bhavana) als Wiedergutmachung von Schuld an. Dann soll diese Praxis ein Spiegel des gesetzmäßig korrekten Verhaltens sein. Schließlich sieht er rechtes und falsches Tun aber nicht als Gegenteile, sondern als ko-produktiv (dharmadharma-samutpannam). „Karma ist eine Schuld ohne Verfallsdatum, ... sie wird vergolten durch kontinuierliche Praxis (bhavana-heya).[4] Dem aktiven Tun, der Praxis, liegt also schon bei Nagarjuna die Überwindung des Dualismus von Rechtem und Unrechtem zugrunde.

Im frühen 20. Jh. wurden in Tun-huang (China) zahlreiche Schriften gefunden, die zwischen 750 und 780 entstanden sein sollen und uns einen klareren Blick auch auf das frühe Chan erlauben. Was Bodhidharma angeht, so soll auf ihn nach heutiger Erkenntnis nur die kurze Schrift Erh-ju ssu-hsing lun („Zwei Eingänge und vier Übungen“) zurückgehen, verfasst von T’an-lin, wohl ein Schüler Hui-k’os. Bodhidharmas Lehren drehen sich vor allem um die – nicht strikt definierte – Sitzmeditation[5] („Wandbetrachten“[6], chin. pi-kuan 壁觀 und „Geist stillen“, chin. an-hsin 安心) sowie um das Lankavatara-Sutra. Die Struktur des Textes erinnert jedoch an das Shrimala-Sutra. Der erste der beiden Eingänge durch Prinzip (li-ju) und Praxis (hsing-ju) verweist auf das Erwachen durch die Lehre, was einen tiefen Glauben beinhaltet, dass alle Wesen eine identische wahre Natur (chen-hsing) haben, die von Befleckungen bedeckt ist. Wenn man zur Wirklichkeit erwacht und konzentriert im „Wandbetrachten“ (der Meditation) verweilt, ohne schriftlichen Überlieferungen anzuhängen, stimmt man mit dem Prinzip überein. Die vier Praktiken sind: 1) erlebte Verletzungen als Folgen eigener schlechter Handlungen in der Vergangenheit geduldig zu ertragen; 2) sich den Umständen anzupassen, d.h. auch glückliche Fügung als Folge entsprechender Taten in der Vergangenheit und als vergänglich anzusehen; 3) nach nichts zu suchen (und entsprechende Gedanken zu beenden); 4) mit dem Dharma/der Lehre übereinzustimmen, in eingeborener Reinheit (hsing-ching) frei von Geiz (wu-chien) zu sein, und mit Leben und Besitz Gebefreudigkeit zu praktizieren.
   Wie schon bei Chih-i wird also auch von Bodhidharma nicht eine einzige Regel (sila) betont, sondern die Tugenden (paramita) der Duldsamkeit und Gebefreudigkeit. Da alle Wesen die identische (Buddha-)Natur haben, besitzt auch kein Lehrer etwas, dass ein Schüler nicht besäße.
   Aus dem Vimalakirti-Sutra stammen die Aussagen, dass Befleckungen (klesa) nicht abgeschnitten werden müssen, um Nirwana zu erlangen; dass alle Taten Ausdruck der Erleuchtung sein können; und dass auch ein Bodhisattva Begehrlichkeiten zeigen kann, dabei aber unbewegt bleibt. Im Gefolge Bodhidharmas, das sich zunehmend auf dieses Sutra und Nagarjuna stützte, wurde dies weiter ausformuliert.: „Wenn richtig und falsch nicht aufkommen, ist die Verkörperung der Gebote rein; dies nennt man moralische Tugend (sila-paramita).“[7] Noch schärfer werden diejenigen kritisiert, die Folgendes denken: „‚Ich habe Übles getan und Strafen empfangen. Wenn ich Gutes tue, werde ich hingegen belohnt.‘ Dies ist schlechtes Karma. Von Beginn an haben solche Dinge nicht existiert, doch wer sich so erinnert und unterscheidet, der glaubt fälschlich, ein Ego existiere.“ Auch Glieder des Achtfachen Pfades werden hiervon nicht ausgenommen: „Jemand mit Scharfsinn hört vom Weg, ohne Begehren danach zu entwickeln. Er erzeugt nicht einmal rechte Achtsamkeit und rechte Versenkung.“ Und: „Wer die Weglosigkeit beschreitet, lehnt die Begierde nicht ab. Denn für den, der verstanden hat, ist Begierde begierdelos.“
   Die Ethik des frühen Chan hat sich damit von der Schwarzweißmalerei, wie sie in den Regeln für Laien und dem Verhaltenskodex für Mönche (Vinaya) inbegriffen ist, bereits verabschiedet. Sie stellt zentrale Thesen des Theravada zum Karma und zu den Ursachen des Leidens, wie hier die Begierde, in Frage (um sie noch tiefgründiger zu verstehen) und wertet insbesondere das Loslassen von Besitztümern als wesentliche moralische Praxis. Dieser letzte Punkt wird bei der Beurteilung von Lehrern heute m.E. oft übersehen.

Die Hung-chou-Schule begann mit Ma-tsu Tao-i (709-788) in der chinesischen Tang-Zeit und beruft sich über Shen-hui auf Hui-neng und die „plötzliche Erleuchtung“ sowie deren Kultivierung (wir kommen darauf im nächsten Beitrag zurück). Ihre bedeutenden Vertreter warnten allesamt vor dem, was sie „Karma von Leben und Tod“ nannten: „Nirwana erreichst du nicht, wenn du nicht von Disziplin und Geboten ablassen kannst.“ (Ta-tsu Hui-hai); „Du sagst: ‚Praktiziere alle sechs paramita und die zehntausend Taten.‘ In meinen Augen schaffst du so nur Karma.“ (Lin-chi I-hsüan). Damit wurde der Unterschied zwischen gutem und schlechtem Karma, die Dualität von Wahrheit und Täuschung aufgehoben, damit sich das volle Potential des Ethischen erst entfalten kann (nach Youru Wang das „Trans-Ethische“ oder „Para-Ethische“, das Nicht-Ethik und Ethik verbindet, das Transzendente aus der und innerhalb der Moral). Karma erschöpft sich gemäß den Gegebenheiten, wie die Hauptlehren der Hung-chou-Schule aufzeigen: Der gewöhnliche Geist ist der Weg; folge den Bewegungen aller Dinge; folge den Bedingungen, wie sie sind. Der Meister lebt schlicht (eine Robe, eine Schale) und kann sich dank seines nichtanhaftenden Geistes offen dem Alltag widmen. Die bedingte Welt und ihre bedingten Aktivitäten sind untrennbar mit der Erkenntnis der Leere verbunden. Ethik wird zu Ethos an dem Ort, wo man mit anderen zusammen ist. Moralische Prinzipien unterliegen der Unbeständigkeit und dem bedingten Entstehen. Zugleich findet man mit diesem Bewusstsein an jedem Ort und zu jeder Zeit eine Möglichkeit, buddhistisch zu handeln, wobei man – eingedenk der Grenzen moralischer Normen – individuellen Personen und Situationen gerecht werden kann. 


Teil III: Shen-hui und Shen-hsiu – plötzliches und allmähliches Erwachen

Hoyu Ishida beschrieb in einem Aufsatz[8] das Problem der Praxis in Shen-huis Lehre von der plötzlichen Erleuchtung. Shen-hui (684-758), ein Schüler des sechsten Patriarchen, behauptete, dessen Lehre unmittelbaren und plötzlichen Erwachens sei direkt von Bodhidharma übermittelt und ginge bis auf die legendären sieben Buddhas zurück. Da mit dem Menschen von Beginn an nichts verkehrt sei, stelle laut Shen-hui die Methode der Konzentration auf dem Weg zum Erwachen eine unerleuchtete Technik dar, zumal sie sich an äußere Lehren hielte. Stattdessen solle der Schüler sich seines verwirrten Geistes bewusst werden und seine ursprüngliche Natur erblicken. In der Erfahrung des Nicht-Denkens würden „sila, samadhi und prajna gleichzeitig identisch ... und das eigene Wissen gleich dem des Tathagata (So Gekommenen/Buddha).“ Praxis würde kein Mittel sein, Erleuchtung zu erlangen, sondern sei selbst erleuchtete Erfahrung. Shen-hui setzt hier also voraus, dass rechte Praxis erst funktioniert, nachdem man erwacht ist, und dass erst dann Regeln, Versenkung und Weisheit eins seien. Diese Vorstellung der „dreifachen Übung“ wurde später von Dogen Zenji in der Form übernommen, dass im Zazen selbst alles verwirklicht sei; im Sinne Shen-huis müsste Zazen dann mit Erwachen gleichgesetzt werden, nur so könnte Praxis auch erwacht und von dieser Erfahrung durchdrungen sein. Hoyu Ishida weist zurecht auf das logische Problem bei dieser Ansicht hin, denn offensichtlich muss Praxis auch als Weg zum Erwachen verstanden werden und kann erst dann „erwachte Praxis“ sein, wenn sich ein Erwachen vollzogen hat. Wäre dem nicht so, gäbe es keinen Grund, die Konzentration oder andere Methoden zu kritisieren; da sie am ursprünglich erwachten Zustand des Menschen ja nichts ändern würden, wäre dieser von Anfang an in Ordnung. Was das bisher hergeleitete Verständnis des frühen Chan angeht, dass es weder einer Reihenfolge „Regeln befolgen, Weisheit erlangen“ noch einer besonderen Betonung dieser Regeln bedarf, so stimmt Shen-hui offensichtlich überein. Wenden wir uns also nun dem Missverständnis zu, dem nicht nur er unterlag, und damit dem etwas künstlichen Streit um plötzliche oder allmähliche Erleuchtung.

Ich fand hierzu einen alten Aufsatz von Hu Shih (1891-1962), einem chinesischen Philosophen und Diplomaten. In “Is Chan (Zen) beyond our understanding?” (Philosophy East and West, Vol. 3, No 1, 1953) geht es ihm zum einen darum, aufzuzeigen, dass Zen einer gewissen Logik folgt. Zum anderen gelingt es Hu Shih, uns die Bedeutung von Shen-huis Kontrahenten Shen-hsiu [9] (607-706) zu verdeutlichen, der noch im Alter von über neunzig Jahren von der Kaiserin Wu in die Hauptstadt Changan eingeladen worden war. Er hatte bis dahin ein zurückgezogenes Leben in den Wutang-Bergen verbracht und wurde im Jahre 701 buchstäblich an den Hof getragen, wo man ihm bis zu seinem Tod im Jahre 705 huldigte. Tempel wurden zu seinen Ehren gebaut, und zunächst galt er als der sechste Patriarch und Nachfolger des fünften, Hung-jen. Zwei seiner Schüler, P’u-chi (gest. 739) und I-fu (gest. 732) waren ebenfalls als Nationallehrer anerkannt.
   Im Jahr 734 stellte jedoch Shen-hui, ein Mönch aus dem Süden Chinas, diese Genealogie in Frage. Hung-jen habe seine Robe nicht Shen-hsiu, sondern dem heute im Allgemeinen als sechster Patriarch bekannten Hui-neng (638-713) vermacht.  Dann warf Shen-hui den Gegnern noch das Lehren der „allmählichen Erleuchtung“ vor, dem gegenüber die wahre Überlieferung der plötzlichen Erleuchtung stünde (der freilich allmähliches Kultivieren folge).[10] Die „vier Formeln“ Shen-hsius – die Konzentration des Geistes, um in dhyâna einzutreten, die Ausrichtung des Geistes durch das Betrachten seiner Reinheit, das Erwecken des Geistes zur Einsicht und die Kontrolle des Geistes – seien allesamt ein Hindernis für die Erleuchtung. Shen-hui verwarf alle Formen der Sitzmeditation (tso-ch’an, jap. zazen) als unnötig und fragte: „Wenn es richtig wäre, in Meditation zu sitzen, warum hätte dann Vimalakirti den Shariputra für sein Sitzen in den Wäldern tadeln sollen? In meiner Schule bedeutet Meditieren, keine Gedanken zu haben, und dhyâna (ch’an) heißt, die eigene ursprüngliche Natur zu erkennen.“ Nach Ansicht von Hu Shih hat damit Shen-hui ein Chan verkündet, das im Grunde keines ist.
   745 wurde der aufmüpfige Shen-hui ins Ho-tse-Kloster in Loyang, der östlichen Hauptstadt des Kaiserreiches, gerufen. Dort setzte er seine rhetorisch begabten Attacken gegen die Nordschule fort und soll etwa auch die Geschichte vom zweiten Patriarchen, wie er sich den Arm abschlug, erfunden haben.[11] Er wählte den Dichter Wang Wei als Biografen Hui-nengs aus und ließ die Geschichte, dass nur dieser vom fünften Patriarchen die Robe erhalten habe, festschreiben. Trotz guter Kontakte zu einflussreichen Menschen wurde Shen-hui zeitweise wegen seiner rebellischen Art ins Exil geschickt. Als es zu einem tatsächlichen Aufstand des Generals Lu-shan kam, erinnerte man sich am Hofe Shen-huis Fähigkeiten, und er beteiligte sich 756 im Alter von 89 Jahren am Geldeinwerben für die kaiserlichen Truppen im Kampfe gegen die Aufständischen – zum einen durch Predigten, zum anderen wohl auch durch den Verkauf von Ordinationslizenzen (tu-tieh) für frischgebackene Mönche und Nonnen. Bis zu seinem Tod im Jahr 760 war Shen-hui danach die Unterstützung des neuen Kaisers gewiss. Im Jahr 796 berief der Kaiser Te-tsung einen Rat von Chan-Meistern ein, um die Übertragungslinie zu bestimmen, und per kaiserlichem Dekret wurde Shen-hui zum siebten Patriarchen. Ein weiteres solches Dekret aus dem Jahr 815 ehrte posthum Hui-neng, und zwei bedeutende Autoren, die mit dessen Biografie beauftragt wurden, machten ihn zum sechsten Patriarchen.
   Ein Beleg dafür, dass Hui-neng nur einer unter vielen Dharma-Nachfolgern Hung-jens war, ist das Leng-chia Jen Fa Chih, das kurz nach Shen-hsius Tod von einem seiner Schüler verfasst wurde. Es listet Hui-neng als achten Nachfolger auf, nennt aber noch zehn andere, neben Shen-hsiu z. B. Chih-hsin und auch einen Laien. Wir können also davon ausgehen, dass es tatsächlich etliche „sechste Patriarchen“ gab. Es ist eines der vielen Beispiele, aus denen wir lernen, dass Übertragungslinien im Zen keine historische Faktizität behaupten können. Da jedenfalls Hui-nengs Schüler offenbar als Asketen abgeschieden in den Bergen lebten, war es leicht, sich irgendwelche Verbindungen zu diesen auszudenken und darauf weitere Linien zu begründen (so tauchten etwa Huai-jang und Hsing-ssu auf, die Shen-hui gar nicht erwähnt hatte). Ähnliche Entwicklungen gab es auch in anderen Zweigen, etwa der Ochsenkopfschule. Tao-hsuan (gest. 667), der Biograf ihres Begründers Fa-yung, hatte noch keinerlei Verbindung zur Lanka-Schule Bodhidharmas erwähnt, doch im 8. Jahrhundert dichtete man ihm den 4. Patriarchen Tao-hsin als Lehrer an, wodurch Fa-yung und seine Ochsenkopf-Schule zu spirituellen Vorfahren des sechsten Patriarchen Hui-neng wurden. Man könnte dies auch als Beispiel dafür nehmen, dass man die Regel, nicht zu lügen, nicht so genau nahm …




   [1] Walter Liebenthal: Chao lun – The Treatises of Seng-chao (Oxford 1969).
   [2] Online: http://buddhism.lib.ntu.edu.tw/FULLTEXT/JR-JOCP/muchael.htm (Sichtung: 4. August 2019)
   [3] Siehe u. a. Thomas Cleary: Stopping and Seeing. A Comprehensive Course in Buddhist Meditation (Shambala 1997).
[4] Siehe Youru Wang (Hg.): Deconstruction and the Ethical in Asian Thought (Routledge 2007), auch für den folgenden Teil zur Hungchou-Schule. 
   [5] Der Ausdruck „dhyâna mit gekreuzten Beinen“ (ts’o-chan) ist in den Texten aus dem Bodhidharma-Umfeld laut Broughton (siehe Fußnote 4) nur zwei Mal zu finden.
   [6] John Mc Rae verweist in Seeing through Zen auf Chih-i (Zhiyi), um das Verständnis dieser „Wand“ zu erweitern: „Konzentration (chin. chih, san. shamatha) ist ‚Wandkonzentration‘ (chin. pi-ting), bei der die üblen Wahrnehmungen der acht Winde nicht eintreten können.“ Diese ‚Wandkonzentration‘ wird später von Zhanran (711-782) so kommentiert: „Ein Raum hat vier Wände, also können die acht Winde nicht eindringen … Sie werden als Metapher benutzt.“ (S. 31) In diesem Sinne stünde m. E. nicht das Sitzen vor einer Wand, sondern der konzentrierte Geist als ‚Schutzwall‘ vor Ablenkungen im Vordergrund.
   [7] Siehe Jeffrey Broughton: The Bodhidharma Anthology: The Earliest Records of Zen. (University of California Press 1999). 
[8] http://www.office.usp.ac.jp/~klinger.w/class/jcmu/Ishida-Shen-Hui.pdf (Sichtung: 4. August 2019)
   [9] Ich setze Shen-hsius Namen wegen der Ähnlichkeit zu Shen-hui zur besseren Unterscheidung kursiv.
   [10] Die verschiedenen Erweckungserfahrungen des sechsten Patriarchen Hui-neng, auf den sich beide berufen, deuten laut Plattform-Sutra tatsächlich auf einen eher graduellen Weg hin.
   [11] Als wahrscheinlicher gilt inzwischen, dass dafür Banditen verantwortlich waren (siehe Broughton: Bodhidharma Anthology).


***

[Auf einer Mailingliste kam die Frage nach Zen in Thailand auf. In Loei gibt es den Rombodhidharma-Tempel, dessen Abt Luang Por Suriya hier eine - leicht erkennbar - vom Chan und Taoismus beeinflusste Lehrrede hält, die tiefsinniger als der übliche Buddhismus Thailands ist. Das Fazit lautet: Beende alle noblen Pfade und verfolge überhaupt keinen Pfad. Das Tun eines Erwachten ist absichtslos.]

             

Kommentare

  1. Danke für den spannenden Text. Ein paar Überlegungen von mir.

    Der Beginn des buddhistischen Weges ist ja rechtes Sehen, also die Erfahrung von anatta (vielleicht eher Entfahrung), Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit. Manche tun so als ob das aus der Ethik entstünde, aber in Buddhas Darstellung kommt es vor der Ethik. Darauf wies Peter Masefield hin. (Er meint ja auch, daß Buddha für dies unverzichtbar war. Ich kenn von ihm aber eigentlich nur einen Artikel in der "Was ist Erleuchtung"- Zeitschrift - manches fand ich aber einleuchtend).

    So gesehen denk ich ist da vieles gar nicht so weit weg von den Dingen, die du beschreibst. Demnach wäre es vielleicht die Fehlinterpretation, daß man dies nicht beachtet.Der achtfache Pfad also erst das, was nach der plötzlichen Erleuchtung entsteht. Nicht das, das zu ihr führt. So versteh ich das.

    (Ansonsten frag ich mich, ob der alte Buddhismus=Theravada nicht ein wenig zu kurz greift. Es war ja nur eine mögliche Deutung, eine von vielen Schulen.)

    Liebe Grüße
    Giri

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  2. Ja, und ich denke, dass ein "achtfacher Pfad" nur eine von vielen Möglichkeiten ist, das "was nach der Erleuchtung entsteht" zu umschreiben. Darum schien mir auch die Rede des buddhistischen Abtes aus Thailand in dem Youtube-Clip zu passen: Der Pfad, der folgt, ist keiner (d.h. nicht in Worten festzulegen), sondern ergibt sich für jeden im freien Agieren gemäß seiner jeweiligen Umstände.

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