[Im Folgenden ein Beitrag, der verschiedene Texte aus diesem Blog verbindet und auf Anfrage eines buddhistischen Magazins zustande kam, das ihn schließlich aber selbst in einer stark vereinfachten Form und ohne die Bezüge zum Machtmissbrauch für zu akademisch befand. Den vierten Teil über tibetisches Zen habe ich hier weggelassen, weil er erst kürzlich in diesem Blog zu lesen war.]
Das frühe Chan
und die besondere Zen-Ethik
Teil I: Die Vorläufer Seng-chao und Chih-i
In der jüngeren Zeit sind das
Fehlverhalten und der Machtmissbrauch buddhistischer Lehrer in den Mittelpunkt
des Interesses gerückt. Dabei fiel mir auf, dass sich bei einigen Schülern (ich
bitte die weibliche Form jeweils mitzudenken) auch nach der Aufdeckung von
Skandalen eine unrealistische Erwartung hartnäckig hält, die zwei wesentliche
Charakteristika hat: Zum einen wird auch der nächste Lehrer als etwas angesehen,
der etwas besitzt, was man selbst nicht habe; zum anderen soll auch er wieder
exemplarisch die wesentlichen „Gebote“ oder Regeln (sila) verkörpern,
also als moralisches Vorbild taugen. Eigentlich kann eine solche
Erwartungshaltung nicht überraschen, da jede Religion für sich in Anspruch
nehmen dürfte, anständige Menschen zu schaffen und weise Lehrer hervorzubringen.
Ich möchte mit einigen kurzen Aufsätzen zum frühen Chan (Zen) jedoch aufzeigen,
inwiefern diese Schüler hier das Opfer ihres eigenen Irrtums werden – und von
Beginn an das frühe Chan (ca. 600-900 n. Chr.) gegen jegliche Illusionen dieser
Art vorging. Nach meinem Verständnis ist das Chan – unter philosophischem
Einfluss des Taoismus – eine ethische Weiterentwicklung des alten Buddhismus,
also des Theravada, ja tatsächlich eine Vertiefung, vielleicht gar besser als eigenständige
Religion zu begreifen. Ich werde dies auf der Grundlage einiger akademischer
Arbeiten herleiten und diese hoffentlich allgemein verständlich aufbereiten.
Dabei ist mir ein Anliegen, Lehrer künftig an anderen Maßstäben zu messen als
üblich und sie somit zugleich von ihrem Sockel zu holen wie auch stärker zu
fordern. Dies ist eine Weise, die hier aufbereiteten Erkenntnisse in unserer
Zeit fruchtbar zu machen. Ferner will ich dabei die üblichen Missverständnisse
über Schulen allmählicher und plötzlicher Erleuchtung und die Überlieferung
Bodhidharmas ausräumen. Ein weiterer Beitrag soll der tibetischen Überlieferung
des Chan gelten. Doch zunächst zu den Wegbereitern der Zen-Ethik.
Im Allgemeinen heißt es, die
„dreifache Übung“ bestehe gleichrangig aus der Praxis der Regeln (sila),
der meditativen Versenkung (samadhi) und der Weisheit (prajna). Theravadin
verweisen in der Regel auf Textstellen im Palikanon, die sich an Mönche richteten
und in denen der Buddha etwa sagte: „O Mönche, ohne die Moral gemeistert zu
haben ist es nicht möglich, die Konzentration zu meistern, und ohne diese wird
man nicht die Weisheit meistern.“ (nach AN 5:22, siehe auch DN 16) Die drei
Bestandteile des Achtfachen Pfades, die mit Rechter Rede, Rechtes Handeln, Rechter
Lebenserwerb bezeichnet werden, sind nach MN 44 Ausdruck von Tugend und
Moral, während andere Pfadglieder der Meditation und Weisheit zugerechnet
werden.
Schauen wir uns zunächst mit Seng-chao
(ca. 374-414) einen Vorläufer des Chan (laut Heinrich Dumoulin) an. Dieser
Gelehrte, der vom Taoismus beeinflusst war, wandte sich nach Lektüre des
Vimalakîrti-Sutras dem Buddhismus zu und wurde Mönch. Als Schüler Kumarajivas
half er diesem bei dessen umfangreichen Übersetzungen ins Chinesische. Am
bekanntesten ist er jedoch für seine Traktate „Chao lun“, in denen er
den indischen Begriffen prajna, nirvana und sunyata eine
chinesische Konnotation beigab und die Madhyamaka-Philosophie darlegte. Walter
Liebenthal hat das Werk ins Englische übersetzt.[1] Bereits
Seng-chao unterschrieb folgende Ansichten:
- dass es einen Unterschied zwischen letztgültiger Wahrheit (paramartha
satya) und konventioneller Wahrheit (laukika satya) gibt;
- dass Weisheit nicht – wie im
Theravada – durch Meditation erworben wird, sondern angeboren ist;
- dass Weisheit und Versenkung aber auch nicht getrennt voneinander
sind, sondern beide durch Erwachen aktiviert werden;
- dass der Weise nichts selbst erkennt oder sich denkt, sondern sich „kosmische
Erkenntnis“ (chih) kosmisch manifestiert (chao);
- dass Dinge, die in Abhängigkeit (pratitya samutpada) entstehen,
nicht „wahr“ sind;
- dass durch spirituelle Übung „auf natürliche Weise“ karmische
Aktivität schwindet und Nirwana erlangt wird (pratisamkhyanirodha).
Michael Berman kommt in seinem Aufsatz “Time and emptiness in the Chao-lun“[2] zum Schluss, des Philosophen David „Humes Behauptung, dass es keine notwendige a priori-Verbindung zwischen Ereignissen und Objekten gäbe, stimmt mit Seng-chaos Folgerung einer ‚Unmöglichkeit von Kausalität‘ überein“ (wie sie ein Erwachter sähe).
Seng-chaos
Bemerkungen zu ethischem Verhalten weisen darauf hin, dass ihm bereits der
Geist der Tugenden (paramita) wichtiger war als der von Geboten (sila)
selbst. So schreibt er:
„Die Herrschaft des
vollendeten Wesens ist Antwort und nicht Aktion, Wohlverhalten und nicht
Mildtätigkeit – so werden sein Handeln und seine Wohltätigkeit größer als
andere. Dennoch wendet er sich weiter den kleinen Pflichten des Lebens zu, und
sein Mitempfinden verbirgt sich in verborgenen Handlungen.“
„Indem er seinen
Glanz an den Staub des Alltagslebens anpasst, wandert er über die fünf Ebenen
der Existenz. Geräuschlos geht er dahin, unbemerkt kommt er an, nicht ins Leben
verstrickt und doch überall präsent.“
„Weil ich mit der
Illusion spendete, dass dies wirklich sei, handelte es sich nicht um dana.
Heute bot ich dem Buddha fünf Blumen im Bewusstsein dar, dass sie ungeboren
sind (anutpanna); dies kann man zurecht dana nennen.“
Diese Feinheit, mit der aus dem Bewusstsein des „Ungeborenen“ die – im
Gegensatz zu den Formulierungen in den sila – weit unauffälligeren
Handlungen des Erwachten geschehen, deuten bereits einen anderen Schwerpunkt an
als die „dreifache Übung“. Bemerkenswert ist auch das Betonen des
illusionslosen Gebens (dana) vor allem anderen. Während die Regeln
Übungen darin sind, etwas nicht zu tun (nicht zu töten, nicht zu lügen usf.),
ist der Kern der Ethik hier schon ein dezidiertes Handeln als Reaktion auf die
Umstände.
Der Tien-tai-Mönch Chih-i
(538-597) beeinflusste mit seinem erstaunlich komplexen Hauptwerk Mo ho chi
kuan („Anhalten und Sehen“)[3] das Zen
und den Reines-Land-Buddhismus. Er beschäftigt sich darin vor allem mit der
auch im frühen Chan propagierten Methode des Anhaltens von Gedanken: „Andauernd
Versenkung zu praktizieren heißt Sehen. Das Verschwinden anderer Gedanken heißt
Anhalten.“ Chih-i wertet diese Methode als die überlegene: „Menschen, die das
Anhalten und Sehen nicht kultivieren können, empfiehlt der Buddha Tugenden als
den Weg.“ Von hier aus ist es nicht weit zu der Erkenntnis, dass Nirwana und
Samsara eins sein könnten – eine zentrale These des späteren Zen: „Die fünf
Vergehen sind nichts anderes als Erleuchtung, die fünf Vergehen und Erleuchtung
sind nicht-dualistisch.“ Schließlich wird Chih-i noch deutlicher: „Die
Phänomene kennen keine Ansammlung, auch keine Ansammlung von Leiden; nichts
wird geboren, nichts bleibt. Weil sich Bedingungen vereinen, entstehen die
Phänomene, dann vergehen sie. Wenn der Geist nach seinem Entstehen vergeht,
dann auch alle Fesseln und Zwänge. So versteht man: Da kann kein Übertreten
sein, nichts bleibt. Es ist wie mit einer Lampe, die man in einem dunklen Raum
anzündet: Die Dunkelheit kann keine Ansprüche über den Raum anmelden und sich
nicht weigern zu verschwinden, nur weil sie so lange dort herrschte. So bald
die Lampe angezündet wird, verschwindet die Dunkelheit.“
Hier sind also bereits zwei
wichtige Entwicklungen festzuhalten: 1) Das Befolgen eines Tugendkataloges ist
zweitrangig gegenüber steter Versenkung. 2) Die abwertende Betrachtung von
Vergehen wird durch Erleuchtung aufgehoben. Wir werden darauf zurückkommen,
wenn wir von Bodhidharma und den ersten Chan-Adepten sprechen.
Teil
II: Nagarjuna, Bodhidharma und Ma-tsu
Werfen
wir nun einen Blick auf Nagarjuna, den von ihm beeinflussten legendenumwobenen
Bodhidharma und die Hung-chou-Schule.
Nagarjuna, der im 2. Jh. lebte, beschäftigte sich in
mehreren Werken mit buddhistischer Ethik, so im Bodhisambaraka, Suhrlekha
und Ratnavalî. Im Mulamadyamakakarika entwirft er die Parallele
zwischen gewöhnlichem Gesetz (vyavahara) und karmischer „Schuld“ (rna),
womit er zugleich einen Widerspruch zwischen Gesetzgebung und Gerechtigkeit zu
verneinen scheint. Das höchste Ziel (paramartha) menschlicher Freiheit –
Nirwana – sei in den Transaktionen einer funktionierenden Gemeinschaft zu
verwirklichen. Die Sarvastivada-Schule des Buddhismus verstand unter svabhava
Unabhängigkeit und Autonomie, die Fähigkeit, aus sich selbst heraus Normen zu
entwickeln und diesen zu folgen; vom Ausmaß dieser Fähigkeit hingen
tugendhaftes Verhalten und das Erlangen der Erleuchtung ab, es gab Handlungen
des Anhaftens und Handlungen der Freiheit. Nagarjuna suchte diesen Dualismus
durch Betonen der Leere (shunyata) zu überwinden, die sich im bedingten
Entstehen (pratityasamutpada) offenbare; er setzte anstelle jener
individuellen Autonomie die aktionsgebundene gegenseitige Abhängigkeit und
einvernehmliche Freiheit. Zunächst sieht Nagarjuna buddhistische Praxis (bhavana)
als Wiedergutmachung von Schuld an. Dann soll diese Praxis ein Spiegel des
gesetzmäßig korrekten Verhaltens sein. Schließlich sieht er rechtes und
falsches Tun aber nicht als Gegenteile, sondern als ko-produktiv (dharmadharma-samutpannam).
„Karma ist eine Schuld ohne Verfallsdatum, ... sie wird vergolten durch
kontinuierliche Praxis (bhavana-heya).“[4] Dem
aktiven Tun, der Praxis, liegt also schon bei Nagarjuna die Überwindung des
Dualismus von Rechtem und Unrechtem zugrunde.
Im frühen 20. Jh. wurden in Tun-huang (China) zahlreiche
Schriften gefunden, die zwischen 750 und 780 entstanden sein sollen und uns
einen klareren Blick auch auf das frühe Chan erlauben. Was Bodhidharma angeht,
so soll auf ihn nach heutiger
Erkenntnis nur die kurze Schrift Erh-ju ssu-hsing
lun („Zwei Eingänge
und vier Übungen“) zurückgehen, verfasst von T’an-lin, wohl ein Schüler Hui-k’os.
Bodhidharmas Lehren drehen sich vor allem um die – nicht strikt definierte –
Sitzmeditation[5]
(„Wandbetrachten“[6],
chin. pi-kuan 壁觀 und „Geist stillen“, chin. an-hsin
安心) sowie um das Lankavatara-Sutra.
Die Struktur des Textes erinnert jedoch an das Shrimala-Sutra. Der erste der beiden Eingänge durch Prinzip (li-ju) und Praxis (hsing-ju)
verweist auf das Erwachen durch die Lehre, was einen tiefen Glauben beinhaltet,
dass alle Wesen eine identische wahre Natur (chen-hsing) haben, die von
Befleckungen bedeckt ist. Wenn man zur Wirklichkeit erwacht und konzentriert im
„Wandbetrachten“ (der Meditation) verweilt, ohne schriftlichen Überlieferungen
anzuhängen, stimmt man mit dem Prinzip überein. Die vier Praktiken sind: 1) erlebte
Verletzungen als Folgen eigener schlechter Handlungen in der Vergangenheit
geduldig zu ertragen; 2) sich den Umständen anzupassen, d.h. auch glückliche
Fügung als Folge entsprechender Taten in der Vergangenheit und als vergänglich
anzusehen; 3) nach nichts zu suchen (und entsprechende Gedanken zu beenden); 4)
mit dem Dharma/der Lehre übereinzustimmen, in eingeborener Reinheit (hsing-ching)
frei von Geiz (wu-chien) zu sein, und mit Leben und Besitz
Gebefreudigkeit zu praktizieren.
Wie schon bei
Chih-i wird also auch von Bodhidharma nicht eine einzige Regel (sila)
betont, sondern die Tugenden (paramita) der Duldsamkeit und
Gebefreudigkeit. Da alle Wesen die identische (Buddha-)Natur haben, besitzt
auch kein Lehrer etwas, dass ein Schüler nicht besäße.
Aus dem Vimalakirti-Sutra stammen die Aussagen,
dass Befleckungen (klesa) nicht abgeschnitten werden müssen, um Nirwana
zu erlangen; dass alle Taten Ausdruck der Erleuchtung sein können; und dass
auch ein Bodhisattva Begehrlichkeiten zeigen kann, dabei aber unbewegt bleibt. Im Gefolge Bodhidharmas, das sich zunehmend auf dieses Sutra und Nagarjuna
stützte, wurde dies weiter ausformuliert.: „Wenn richtig und falsch
nicht aufkommen, ist die Verkörperung der Gebote rein; dies nennt man
moralische Tugend (sila-paramita).“[7] Noch
schärfer werden diejenigen kritisiert, die Folgendes denken: „‚Ich habe Übles
getan und Strafen empfangen. Wenn ich Gutes tue, werde ich hingegen belohnt.‘
Dies ist schlechtes Karma. Von Beginn an haben solche Dinge nicht existiert,
doch wer sich so erinnert und unterscheidet, der glaubt fälschlich, ein Ego
existiere.“ Auch Glieder des Achtfachen Pfades werden hiervon nicht
ausgenommen: „Jemand mit Scharfsinn hört vom Weg, ohne Begehren danach zu
entwickeln. Er erzeugt nicht einmal rechte Achtsamkeit und rechte Versenkung.“
Und: „Wer die Weglosigkeit beschreitet, lehnt die Begierde nicht ab. Denn für
den, der verstanden hat, ist Begierde begierdelos.“
Die Ethik des frühen Chan hat sich damit von
der Schwarzweißmalerei, wie sie in den Regeln für Laien und dem Verhaltenskodex
für Mönche (Vinaya) inbegriffen ist, bereits verabschiedet. Sie stellt zentrale
Thesen des Theravada zum Karma und zu den Ursachen des Leidens, wie hier die
Begierde, in Frage (um sie noch tiefgründiger zu verstehen) und wertet insbesondere
das Loslassen von Besitztümern als wesentliche moralische Praxis. Dieser letzte
Punkt wird bei der Beurteilung von Lehrern heute m.E. oft übersehen.
Die Hung-chou-Schule begann mit Ma-tsu Tao-i (709-788) in
der chinesischen Tang-Zeit und beruft sich über Shen-hui auf Hui-neng und die „plötzliche
Erleuchtung“ sowie deren Kultivierung (wir kommen darauf im nächsten Beitrag
zurück). Ihre bedeutenden Vertreter warnten allesamt vor dem, was sie „Karma
von Leben und Tod“ nannten: „Nirwana erreichst du nicht, wenn du nicht von
Disziplin und Geboten ablassen kannst.“ (Ta-tsu Hui-hai); „Du sagst: ‚Praktiziere
alle sechs paramita und die zehntausend Taten.‘ In meinen Augen schaffst
du so nur Karma.“ (Lin-chi I-hsüan). Damit wurde der Unterschied zwischen gutem
und schlechtem Karma, die Dualität von Wahrheit und Täuschung aufgehoben, damit
sich das volle Potential des Ethischen erst entfalten kann (nach Youru Wang das
„Trans-Ethische“ oder „Para-Ethische“, das Nicht-Ethik und Ethik verbindet, das
Transzendente aus der und innerhalb der Moral). Karma erschöpft
sich gemäß den Gegebenheiten, wie die Hauptlehren der Hung-chou-Schule
aufzeigen: Der gewöhnliche Geist ist der Weg; folge den Bewegungen aller Dinge;
folge den Bedingungen, wie sie sind. Der Meister lebt schlicht (eine Robe, eine
Schale) und kann sich dank seines nichtanhaftenden Geistes offen dem Alltag
widmen. Die bedingte Welt und ihre bedingten Aktivitäten sind untrennbar mit
der Erkenntnis der Leere verbunden. Ethik wird zu Ethos an dem Ort, wo man mit
anderen zusammen ist. Moralische Prinzipien unterliegen der Unbeständigkeit und
dem bedingten Entstehen. Zugleich findet man mit diesem Bewusstsein an jedem
Ort und zu jeder Zeit eine Möglichkeit, buddhistisch zu handeln, wobei man –
eingedenk der Grenzen moralischer Normen – individuellen Personen und
Situationen gerecht werden kann.
Teil III: Shen-hui und Shen-hsiu – plötzliches und
allmähliches Erwachen
Hoyu Ishida beschrieb in einem Aufsatz[8] das
Problem der Praxis in Shen-huis Lehre von der plötzlichen Erleuchtung. Shen-hui
(684-758), ein Schüler des sechsten Patriarchen, behauptete, dessen Lehre
unmittelbaren und plötzlichen Erwachens sei direkt von Bodhidharma übermittelt
und ginge bis auf die legendären sieben Buddhas zurück. Da mit dem Menschen von
Beginn an nichts verkehrt sei, stelle laut Shen-hui die Methode der
Konzentration auf dem Weg zum Erwachen eine unerleuchtete Technik dar, zumal
sie sich an äußere Lehren hielte. Stattdessen solle der Schüler sich seines
verwirrten Geistes bewusst werden und seine ursprüngliche Natur erblicken. In
der Erfahrung des Nicht-Denkens würden „sila, samadhi und prajna
gleichzeitig identisch ... und das eigene Wissen gleich dem des Tathagata (So
Gekommenen/Buddha).“ Praxis würde kein Mittel sein, Erleuchtung zu erlangen,
sondern sei selbst erleuchtete Erfahrung. Shen-hui setzt hier also voraus, dass
rechte Praxis erst funktioniert, nachdem man erwacht ist, und dass erst dann
Regeln, Versenkung und Weisheit eins seien. Diese Vorstellung der „dreifachen
Übung“ wurde später von Dogen Zenji in der Form übernommen, dass im Zazen
selbst alles verwirklicht sei; im Sinne Shen-huis müsste Zazen dann mit
Erwachen gleichgesetzt werden, nur so könnte Praxis auch erwacht und von dieser
Erfahrung durchdrungen sein. Hoyu Ishida weist zurecht auf das logische Problem
bei dieser Ansicht hin, denn offensichtlich muss Praxis auch als Weg zum
Erwachen verstanden werden und kann erst dann „erwachte Praxis“ sein, wenn sich
ein Erwachen vollzogen hat. Wäre dem nicht so, gäbe es keinen Grund, die
Konzentration oder andere Methoden zu kritisieren; da sie am ursprünglich
erwachten Zustand des Menschen ja nichts ändern würden, wäre dieser von Anfang
an in Ordnung. Was das bisher hergeleitete Verständnis des frühen Chan
angeht, dass es weder einer Reihenfolge „Regeln befolgen, Weisheit erlangen“
noch einer besonderen Betonung dieser Regeln bedarf, so stimmt Shen-hui
offensichtlich überein. Wenden wir uns also nun dem Missverständnis zu, dem
nicht nur er unterlag, und damit dem etwas künstlichen Streit um plötzliche
oder allmähliche Erleuchtung.
Ich
fand hierzu einen alten Aufsatz von Hu Shih (1891-1962), einem chinesischen
Philosophen und Diplomaten. In “Is Chan (Zen) beyond our understanding?” (Philosophy
East and West, Vol. 3, No 1, 1953) geht es ihm zum einen darum, aufzuzeigen,
dass Zen einer gewissen Logik folgt. Zum anderen gelingt es Hu Shih, uns die
Bedeutung von Shen-huis Kontrahenten Shen-hsiu [9] (607-706) zu verdeutlichen, der noch im Alter von
über neunzig Jahren von der Kaiserin Wu in die Hauptstadt Changan eingeladen
worden war. Er hatte bis dahin ein zurückgezogenes Leben in den Wutang-Bergen
verbracht und wurde im Jahre 701 buchstäblich an den Hof getragen, wo man ihm
bis zu seinem Tod im Jahre 705 huldigte. Tempel wurden zu seinen Ehren gebaut,
und zunächst galt er als der sechste Patriarch und Nachfolger des fünften,
Hung-jen. Zwei seiner Schüler, P’u-chi (gest. 739) und I-fu (gest. 732) waren
ebenfalls als Nationallehrer anerkannt.
Im Jahr 734 stellte jedoch Shen-hui, ein Mönch
aus dem Süden Chinas, diese Genealogie in Frage. Hung-jen habe seine Robe nicht
Shen-hsiu, sondern dem heute im Allgemeinen als sechster Patriarch
bekannten Hui-neng (638-713) vermacht.
Dann warf Shen-hui den Gegnern noch das Lehren der „allmählichen
Erleuchtung“ vor, dem gegenüber die wahre Überlieferung der plötzlichen
Erleuchtung stünde (der freilich allmähliches Kultivieren folge).[10] Die „vier
Formeln“ Shen-hsius – die Konzentration des Geistes, um in dhyâna
einzutreten, die Ausrichtung des Geistes durch das Betrachten seiner Reinheit,
das Erwecken des Geistes zur Einsicht und die Kontrolle des Geistes – seien
allesamt ein Hindernis für die Erleuchtung. Shen-hui verwarf alle Formen der
Sitzmeditation (tso-ch’an, jap. zazen) als unnötig und fragte:
„Wenn es richtig wäre, in Meditation zu sitzen, warum hätte dann Vimalakirti
den Shariputra für sein Sitzen in den Wäldern tadeln sollen? In meiner Schule
bedeutet Meditieren, keine Gedanken zu haben, und dhyâna (ch’an) heißt,
die eigene ursprüngliche Natur zu erkennen.“ Nach Ansicht von Hu Shih
hat damit Shen-hui ein Chan verkündet, das im Grunde keines ist.
745 wurde der aufmüpfige Shen-hui ins
Ho-tse-Kloster in Loyang, der östlichen Hauptstadt des Kaiserreiches, gerufen.
Dort setzte er seine rhetorisch begabten Attacken gegen die Nordschule fort und
soll etwa auch die Geschichte vom zweiten Patriarchen, wie er sich den Arm
abschlug, erfunden haben.[11] Er
wählte den Dichter Wang Wei als Biografen Hui-nengs aus und ließ die
Geschichte, dass nur dieser vom fünften Patriarchen die Robe erhalten habe,
festschreiben. Trotz guter Kontakte zu einflussreichen Menschen wurde Shen-hui
zeitweise wegen seiner rebellischen Art ins Exil geschickt. Als es zu einem
tatsächlichen Aufstand des Generals Lu-shan kam, erinnerte man sich am Hofe
Shen-huis Fähigkeiten, und er beteiligte sich 756 im Alter von 89 Jahren am
Geldeinwerben für die kaiserlichen Truppen im Kampfe gegen die Aufständischen –
zum einen durch Predigten, zum anderen wohl auch durch den Verkauf von
Ordinationslizenzen (tu-tieh) für frischgebackene Mönche und Nonnen. Bis
zu seinem Tod im Jahr 760 war Shen-hui danach die Unterstützung des neuen
Kaisers gewiss. Im Jahr 796 berief der Kaiser Te-tsung einen Rat von
Chan-Meistern ein, um die Übertragungslinie zu bestimmen, und per kaiserlichem
Dekret wurde Shen-hui zum siebten Patriarchen. Ein weiteres solches Dekret aus
dem Jahr 815 ehrte posthum Hui-neng, und zwei bedeutende Autoren, die mit
dessen Biografie beauftragt wurden, machten ihn zum sechsten Patriarchen.
Ein Beleg dafür, dass Hui-neng nur einer
unter vielen Dharma-Nachfolgern Hung-jens war, ist das Leng-chia Jen Fa Chih,
das kurz nach Shen-hsius Tod von einem seiner Schüler verfasst wurde. Es
listet Hui-neng als achten Nachfolger auf, nennt aber noch zehn andere, neben Shen-hsiu
z. B. Chih-hsin und auch einen Laien. Wir können also davon ausgehen, dass es
tatsächlich etliche „sechste Patriarchen“ gab. Es ist eines der vielen
Beispiele, aus denen wir lernen, dass Übertragungslinien im Zen keine
historische Faktizität behaupten können. Da jedenfalls Hui-nengs Schüler
offenbar als Asketen abgeschieden in den Bergen lebten, war es leicht, sich
irgendwelche Verbindungen zu diesen auszudenken und darauf weitere Linien zu
begründen (so tauchten etwa Huai-jang und Hsing-ssu auf, die Shen-hui gar nicht
erwähnt hatte). Ähnliche Entwicklungen gab es auch in anderen Zweigen, etwa der
Ochsenkopfschule. Tao-hsuan (gest. 667), der Biograf ihres Begründers Fa-yung,
hatte noch keinerlei Verbindung zur Lanka-Schule Bodhidharmas erwähnt, doch im
8. Jahrhundert dichtete man ihm den 4. Patriarchen Tao-hsin als Lehrer an,
wodurch Fa-yung und seine Ochsenkopf-Schule zu spirituellen Vorfahren des
sechsten Patriarchen Hui-neng wurden. Man könnte dies auch als Beispiel dafür
nehmen, dass man die Regel, nicht zu lügen, nicht so genau nahm …
[4] Siehe Youru
Wang (Hg.): Deconstruction and the Ethical in Asian Thought (Routledge
2007), auch für den folgenden Teil zur Hungchou-Schule.
[6] John Mc Rae
verweist in Seeing through Zen auf Chih-i (Zhiyi), um das Verständnis
dieser „Wand“ zu erweitern: „Konzentration (chin. chih, san. shamatha)
ist ‚Wandkonzentration‘ (chin. pi-ting), bei der die üblen Wahrnehmungen
der acht Winde nicht eintreten können.“ Diese ‚Wandkonzentration‘ wird später
von Zhanran (711-782) so kommentiert: „Ein Raum hat vier Wände, also können die
acht Winde nicht eindringen … Sie werden als Metapher benutzt.“ (S. 31) In
diesem Sinne stünde m. E. nicht das Sitzen vor einer Wand, sondern der
konzentrierte Geist als ‚Schutzwall‘ vor Ablenkungen im Vordergrund.
[8] http://www.office.usp.ac.jp/~klinger.w/class/jcmu/Ishida-Shen-Hui.pdf
(Sichtung: 4. August 2019)
[11] Als
wahrscheinlicher gilt inzwischen, dass dafür Banditen verantwortlich waren
(siehe Broughton: Bodhidharma Anthology).
***
[Auf einer Mailingliste kam die Frage nach Zen in Thailand auf. In Loei gibt es den Rombodhidharma-Tempel, dessen Abt Luang Por Suriya hier eine - leicht erkennbar - vom Chan und Taoismus beeinflusste Lehrrede hält, die tiefsinniger als der übliche Buddhismus Thailands ist. Das Fazit lautet: Beende alle noblen Pfade und verfolge überhaupt keinen Pfad. Das Tun eines Erwachten ist absichtslos.]
Danke für den spannenden Text. Ein paar Überlegungen von mir.
AntwortenLöschenDer Beginn des buddhistischen Weges ist ja rechtes Sehen, also die Erfahrung von anatta (vielleicht eher Entfahrung), Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit. Manche tun so als ob das aus der Ethik entstünde, aber in Buddhas Darstellung kommt es vor der Ethik. Darauf wies Peter Masefield hin. (Er meint ja auch, daß Buddha für dies unverzichtbar war. Ich kenn von ihm aber eigentlich nur einen Artikel in der "Was ist Erleuchtung"- Zeitschrift - manches fand ich aber einleuchtend).
So gesehen denk ich ist da vieles gar nicht so weit weg von den Dingen, die du beschreibst. Demnach wäre es vielleicht die Fehlinterpretation, daß man dies nicht beachtet.Der achtfache Pfad also erst das, was nach der plötzlichen Erleuchtung entsteht. Nicht das, das zu ihr führt. So versteh ich das.
(Ansonsten frag ich mich, ob der alte Buddhismus=Theravada nicht ein wenig zu kurz greift. Es war ja nur eine mögliche Deutung, eine von vielen Schulen.)
Liebe Grüße
Giri
Ja, und ich denke, dass ein "achtfacher Pfad" nur eine von vielen Möglichkeiten ist, das "was nach der Erleuchtung entsteht" zu umschreiben. Darum schien mir auch die Rede des buddhistischen Abtes aus Thailand in dem Youtube-Clip zu passen: Der Pfad, der folgt, ist keiner (d.h. nicht in Worten festzulegen), sondern ergibt sich für jeden im freien Agieren gemäß seiner jeweiligen Umstände.
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