Beschäftigen wir uns nun mit einigen Aspekten des
chinesischen Chan, die die frühe Übertragungshagiographie und den etwas
künstlichen Streit um plötzliche oder allmähliche Erleuchtung kennzeichnen. Ich
fand einen alten Aufsatz von Hu Shih (1891-1962), einem chinesischen
Philosophen und Diplomaten, der zeitweise Präsident der Peking Universität war
und sich besonders für die Verwendung von Umgangssprache in der Literatur
einsetzte. In “Is Chan (Zen)
beyond our understanding?” (Philosophy East and West, Vol. 3, No
1, 1953) geht es ihm zum einen darum, im Gegensatz zu D. T. Suzuki aufzuzeigen,
dass Zen durchaus gewissen Logiken folgt. Zum anderen gelingt es Hu Shih, uns
die Bedeutung von Shen-hsiu zu verdeutlichen, der im Alter von über neunzig Jahren
von der Kaiserin Wu in die Hauptstadt Changan eingeladen wurde. Er hatte bis
dahin ein zurückgezogenes Leben in den Wutang-Bergen verbracht und wurde nun im
Jahre 701 buchstäblich an den Hof getragen, wo man ihn bis zu seinem Tod im
Jahre 705 verehrte. Tempel wurden zu seinen Ehren gebaut, und zunächst galt er
als der 6. Patriarch und Nachfolger des fünften, Hung-jen. Zwei seiner Schüler,
P’u-chi (gest. 739) und I-fu (gest. 732) waren ebenfalls als Nationallehrer
anerkannt.
Im Jahr 734 stellte
ein Mönch aus dem Süden namens Shen-hui diese Genealogie in einem Kloster in
Huatai in Frage. Hung-jen habe seine Robe nicht Shen-hsiu, sondern dem heute im
Allgemeinen als sechster Patriarch bekannten Hui-neng vermacht. Dann warf Shen-hui den Gegnern noch das
Lehren der „allmählichen Erleuchtung“ vor, dem gegenüber die wahre
Überlieferung der plötzlichen Erleuchtung stünde, der freilich allmähliches
Kultivieren folge. Die vier Formeln Shen-hsius – das "Einfrieren" des Geistes,
um in dhyâna einzutreten, das "Anhalten" des Geistes zwecks
Betrachten (seiner) Reinheit, das "Aktivieren" des Geistes zwecks nach außen gerichteter Erleuchtung und die
Konzentration des Geistes zur inneren Einsicht – seien allesamt ein Hindernis fürs Erwachen.
Shen-hui verwarf alle Formen der Sitzmeditation (tso-ch’an, jap. zazen)
als unnötig und fragte: „Wenn es richtig wäre, in Meditation zu sitzen, warum
hätte dann Vimalakirti den Shariputra für sein Sitzen in den Wäldern tadeln
sollen? In meiner Schule bedeutet Meditieren, keine Gedanken zu haben, und dhyâna
(ch’an) heißt, die eigene ursprüngliche Natur zu erkennen.“ Nach
Ansicht von Hu Shih hat damit Shen-hui ein Chan verkündet, das im Grunde keines
ist.
745 wurde der
aufmüpfige Shen-hui ins Ho-tse-Kloster in Loyang, der östlichen Hauptstadt des
Kaiserreiches, gerufen. Dort setzte er seine rhetorisch begabten Attacken gegen
die Nordschule fort und soll etwa auch die Geschichte vom zweiten Patriarchen,
wie er sich den Arm abschlug, erfunden haben. Er wählte den Dichter Wang Wei
als Biografen Hui-nengs aus und ließ die Geschichte, dass nur er vom 5.
Patriarchen die Robe erhalten habe, festschreiben. Trotz guter Kontakte zu
einflussreichen Menschen wurde Shen-hui zeitweise wegen seiner rebellischen Art
ins Exil geschickt. Als es zu einem tatsächlichen Aufstand des Generals Lu-shan
kam, erinnerte man sich am Hofe Shen-huis Fähigkeiten, und er beteiligte sich
756 im Alter von 89 Jahren am Geldeinwerben für die kaiserlichen Truppen im
Kampfe gegen die Aufständischen, zum einen durch Predigten, zum anderen wohl
auch durch den Verkauf von Ordinationslizenzen (tu-tieh) für neue Mönche
und Nonnen. Bis zu seinem Tod im Jahr 760 war Shen-hui danach die Unterstützung
des neuen Kaisers gewiss. Im Jahr 796 berief der Kaiser Te-tsung einen Rat von
Chan-Meistern ein, um die Übertragungslinie zu bestimmen, und per kaiserlichem
Dekret wurde Shen-hui zum 7. Patriarchen. Ein weiteres solches Dekret aus dem
Jahr 815 ehrte posthum Hui-neng, und zwei bedeutende Autoren, die mit dessen
Biografie beauftragt wurden, machten ihn zum 6. Patriarchen.
Ein Beleg dafür,
dass Hui-neng nur einer unter vielen Dharma-Nachfolgern Hung-jens war, ist das Leng-chia
Jen Fa Chih, das kurz nach Shen-hsius Tod von einem seiner Schüler verfasst
wurde. Es listet Hui-neng als 8. Nachfolger auf, nennt aber noch zehn andere,
neben Shen-hsiu z.B. Chih-hsin und auch einen Laien. Wir können also davon
ausgehen, dass es tatsächlich etliche „sechste Patriarchen“ gab.
Wang Wei
porträtierte nun die Kernlehre Hui-nengs, eines „Ke lao“, also Ureinwohners aus
dem Süden, so: Wer (er)duldet (jen) –
z.B. Leiden und Schmach –, verneint sein eigenes Leben und ist
daher selbstlos. Nichts könne mit Nicht-Handeln (wu-wei) verglichen
werden. Ein anderer Biograf schreibt, nach Hui-neng sei kein Pflügen und Jäten
nötig, da die ursprüngliche Natur des Menschen rein sei. Da jedenfalls
Hui-nengs Schüler offenbar als Asketen abgeschieden in den Bergen lebten, war
es leicht, sich irgendwelche Verbindungen zu diesen auszudenken und darauf
weitere Linien zu begründen (so tauchten etwa Huai-jang und Hsing-ssu auf, die
Shen-hui gar nicht erwähnt hatte). Ähnliche Entwicklungen gab es auch in
anderen Zweigen, etwa der Ochsenkopfschule. Tao-hsuan (gest. 667), der Biograf
ihres Begründers Fa-yung, hatte noch keinerlei Verbindung zur Lanka-Schule
Bodhidharmas erwähnt, doch im 8. Jahrhundert dichtete man ihm den 4.
Patriarchen Tao-hsin als Lehrer an, wodurch Fa-yung und seine Ochsenkopf-Schule
zu spirituellen Vorfahren des sechsten Patriarchen Hui-neng wurden.
Tsung-mi (gest. 841) fasste die Chan-Bewegung auf zwei Arten
zusammen. Zum einen unterschied er drei Bewegungen: 1) Diejenigen, die das
Auslöschen falscher Gedanken mittels Gedankenkontrolle lehrten, also die alten
Schulen des indischen dhyâna; 2) diejenigen, die lehrten, das nichts
wirklich sei und man nirgends verweilen könne, dass uns keine Wahrheit (Dharma)
binden könne und keine Buddhaschaft zu erlangen sei, also etwa die Ochsenkopf-Schule
und die Shih-t’ous; 3) diejenigen, die alle älteren Formen des Ch’an ablehnten
und einen direkten Zugang zum Geist und zur Menschennatur suchten, etwa
Shen-hui und Ma-tsu.
Zum anderen sprach
Tsung-mi von sieben großen Schulen des Chan: 1) die Nordschule Shen-hsius, 2)
eine Schule in Westchina, die vor allem das Rezitieren des Wortes „Fu“ (Buddha)
übte, 3) die Schule Chih-hsins, eines Bruderschülers Shen-hsius und Hui-nengs,
aus der letztlich auch Ma-tsu stammt. Diese drei Schulen vereine das Motto: „Rufe
nicht die Vergangenheit wach, sinne nicht über die Zukunft nach, vergiss nicht
den Pfad der Weisheit“; 4) die Schule Wu-chus (gest. 774), der die üblichen Formen
buddhistischer Praxis und alle Gedanken, ob guter oder übler Art, als töricht
bezeichnete [siehe meine Übersetzung in Gutes tun]; 5) die Schule
Shen-huis, die ebenfalls die üblichen Chan-Praktiken ablehnte und den Zugang zu
Mysterien über Erkenntnis für möglich hielt („An meinem Ort gibt es nichts wie ting
(samâdhi) und niemand spricht von der Konzentration des Geistes“); 6) die
Ochsenkopfschule, die sich auf die Lehren der Weisheitssutren und der
Madhyamika-Schule, die auf Nagarjuna zurückgeht, stützte („Es gibt weder Buddha
noch Nicht-Buddha“); 7) die Schule Ma-tsu, der in jeder Handlung und jedem Gedanken
das Wirken der Buddha-Natur sah, sogar in Wut und Hass, und folglich keine
Notwendigkeit für eine bestimmte Art der Praxis erkannte; Ma-tsus Laienschüler
P’ang Yun hinterließ den Rat: „Leere dich von allem, das existiert, und
konkretisiere niemals etwas, das nicht existiert.“ (Hu Shih nennt dieses Diktum „P’angs Rasiermesser“.)
Hu-Shih selbst fährt fort, seine These zu untermauern, dass
chinesisches Chan eigentlich kein Chan sei und in der einfachen Sprache (pai-hua)
des Volkes, wie sie z.B. auch Lin-chi verwendete, vielmehr das gemeint war, was
gesagt wurde, so dass Chan tatsächlich naturalistische, nihilistische und
ikonoklastische Züge trug und eine intellektuelle Anstrengung beinhaltete.
Andererseits räumt er drei pädagogische Methoden ein: 1) Nie etwas zu deutlich
zu lehren (pu shuo p’o), damit der Schüler von selbst drauf kommt; 2) exzentrische
Reaktionen wie Schlagen, Weggehen und rätselhafte Antworten; 3) Fußmärsche (hsing-chiao)
zu anderen Lehrern und Tempeln, aber auch, um die Vielfalt der Welt
kennenzulernen.
(aus einem der kitschigen Tempel in umd um Chiang Rai)
Namaste!
AntwortenLöschenIch wage mal die Behauptung, dass die Zen-Überlieferungslinien alle samt immer mal wieder rückwirkend bereinigt wurden - ob das nun in Japan, Korea oder China ist... oder in Vietnam - das ist doch ganz egal!
Ist es beispielsweise nicht eigenartig, dass sich alle heutigen Sôtô-Linien offiziell auf diejenige von Keizan Jôkin-Linie beziehen (vgl. https://terebess.hu/zen/mesterek/lineage.html), und niemand auf Gien Zenji und Jakuen Zenji in der eigenen Patriarchenliste stehen hat?
Und überhaupt: Das sind doch häufig recht "leere" Namen, auf die man sich da beruft, die man da rezitiert...
Okay, bei vielen der "Großen Alten" läuft einem schon ein positiver Schauer über den Rücken (Gänsehaut-Feeling), aber gerade bei den Meistern zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert ist doch kaum jemand dabei, über den man mühelos etwas herausfindet... teilweise nicht einmal Lebensdaten!
Die Behauptung, in einer "ununterbrochenen Ordinations- und Übertragungslinie seit dem historischen Buddha Gautama" zu stehen ist doch recht vermessen!
Wohl dem, der das Ganze etwas locker sieht und solche Behauptungen mit einem Augenzwinkern "Ja, klar - 'ununterbrochen'...", hinnehmen kann!
< gasshô >
Benkei