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Ein weiterer Kommentar zu Hitoshi Nagai? Dann doch lieber Schuhe!

Ich wollte hier seinen Essay „Why isn’t consciousness real?“ zusammenfassen und kommentieren. Es wurde mir zu kompliziert. Hitoshi Nagai sagt, nach verbreitetem Verständnis besäße jeder Mensch einen Geist oder ein Bewusstsein, beides sei durch dessen Hirnaktivität erzeugt. Er will dieses Verständnis herleiten und vernichten, dabei jedoch aufzeigen, dass diese Illusion für unser Verständnis von Wirklichkeit (actuality) vonnöten sei. Nagai stellt voran, dass er selbst eine Art Fiktion entwerfe und sein Essay sich nicht systematisch zu einer Wahrheit hin entwickle, sondern eher eine Schleife (loop) beschreibe. Dann bittet er uns, ein Verständnis des „Zombie“ – gemäß des Philosophen David Chalmers – im Sinne zu behalten, den er als Wesen ohne Bewusstsein definiert (etymologisch kommt das Wort jedoch von „Gott“ oder „Seele“ und beschreibt einen Geist, der Lebende drangsaliert, also einer zielgerichteten Aufgabe nachgeht).  Ich wollte Nagai auch die schon in meinem Beitrag über sein Penetre-Buch nachgewiesene Arroganz verzeihen, er würde einen „unantastbaren Gedanken der Wahrheit“ vermitteln. 
 
Ein paar grundlegende Details zu Nagais Werk. Das "Ich!" (der Übersetzer ins Englische schreibt dahinter ein Ausrufezeichen) sei mit anderen Personen unvergleichbar, verweise aber nicht auf ein Selbst oder eine bestimmte Person, die etwa "Hitoshi Nagai" heißt. Zwar sei es möglich, dass "Ich!" Hitoshi Nagai sei, es könne aber auch eine andere Person sein. Letztlich ist offenbar dieses "Ich!" aber auch nur durch den Bezug auf den Geist oder das Bewusstsein anderer erreichbar, heißt es in dem Aufsatz "Philosophy in Japan after WWII". Ich muss Nagai zugute halten, dass er offenbar auf diese Weise gerade isoliert lebenden jungen Japaner(inne)n das Gefühl eines Wertes vermittelt hat (da sie das Wunder ihrer einzigartigen Existenz in ihrem Selbstbild stärkte). Allerdings ist mir aufgrund der wenigen Texte, die ich lesen konnte, nicht klar geworden, was Nagais hilfreicher und originärer Beitrag zum Verhältnis von Selbst und anderen sein soll.
 
Im Gegensatz zu Nagais Auffassung in seinem o.g. Essay zitiere ich eine wesentliche Passage aus dem in diesem Beitrag genannten Buch von Steven Pinker, das auf Deutsch "Das unbeschriebene Blatt" heißt. Ich kenne nur das englischsprachige Hörbuch, das übrigens ca. 22 Stunden lang ist. Auf audible.com kann man einen Monat gratis haben und den Titel ggf. herunterladen. In Kapitel 3 heißt es ab ca. Min. 39 (ich übersetze selbst): "Man kann sagen, dass die Informationen verarbeitende Aktivität des Gehirnes den Geist erzeugt oder der Geist ist. Die Hinweise sind überwältigend, dass jeder Aspekt unseres geistigen Lebens  vollständig von körperlichen Vorgängen im Gewebe des Gehirnes abhängt." Nagai scheint sich diesem gegenwärtigen Wissensstand zu verschließen (was auf seinen marxistischen Einfluss zurückzuführen sein könnte), während Pinker sein Buch mit einem Überblick über gängige Philosophien und andere Wissenschaftszweige beginnt. Eine gute Zusammenfassung bieten auch Artikel der TAZ (z. B.: der Geist kann nicht ausschließlich auf Vorgänge in der Hirnrinde reduziert werden) und der ZEIT ("Ich-Bewusstsein", z.B.: das Selbst ist eine Illusion, derer wir uns nicht bewusst sind, weil wir uns ständig eine Story für unser Leben zusammenschustern). Weiter empfehle ich auf Englisch die Youtube-Beiträge von Sam Harris (zum freien Willen) und Anil Seth (wie das Hirn bewusste Realität halluziniert). Mit Interesse las ich auch, wie Biologen und Informationstheoretiker den Begriff "Individuum" ausweiten, z.B. auf Ameisenkolonien oder einen Verbund von Flechten, die wie ein Organismus zusammenarbeiten.
 
Für Nagai existiert kein Geist. Er habe nie etwas gesehen, was (allgemein) „Geist“ genannt wird. Er würde jedoch seinen eigenen Geist fühlen und sicher sein, dass dieser existiere. Da dies aber nur momentan geschehe, sei sein Geist nicht von allgemeiner Natur. Letztlich könne er „dies“ genannt werden. Später definiert Nagai den Geist als das, was unterscheidet, und Bewusstsein als das, was empfindet.
 
Nagai sagt, es sei abwegig, das Bewusstsein als vom Hirn erzeugt anzusehen, denn wie das Gehirn den Geist oder Bewusstsein erzeuge, könne man nicht beobachten. Allerdings behauptet er auch, das würde man nie können. Diese Aussage erscheint mir unwissenschaftlich. Hierzu lese man die unterschiedlichen Positionen zu den von ihm häufig eingebrachten „Qualia“ (Erfahrungen), wonach Nagai wohl den „Neuen Mystikern“ zuzurechnen wäre, da auch die Qualia selbst nicht experimentell nachzuweisen sind. An dieser Stelle wurde mir zumindest klar, dass es insbesondere bei Praktizierenden des Soto-Zen eine Affinität zu solchen Gedanken zu geben scheint, denn ich habe einst lange Diskussionen zwecks Organspendebereitschaft geführt, in denen zumindest aus dieser Schule heftige Zweifel am Kriterium des Hirntodes geäußert wurden.
 
Es folgen recht komplexe Ausführungen, die ich nicht wiedergeben kann. Nagais m. E. falsches Verständnis von Farbe, das schon in meiner ersten Kritik an ihm erwähnt wurde, wird noch einmal unterstrichen, als er meint, Farben seien für uns so lange irrelevant gewesen, bis unsere Eltern uns ihren Unterschied erklärt hätten. Gerade heute habe ich, da an meinem Balkon ständig Wespen ein Nest zu bauen suchen, gelernt, dass sie die Farbe Weiß nicht mögen. Wer hat das wohl den Wespen beigebracht? Aus diesem Grund erwähnte ich Steven Pinker, denn Nagai hat offenbar wenig Verständnis für das, was unsere Gene uns bei der Geburt bereits mitgeben und damit zu einem Individuum machen. Folglich kann Farbenblindheit für Nagai dann auch nur eine Unfähigkeit zur Unterscheidung sein, dabei ist sie vor allem eine Definitionssache, denn würde man dem Farbenblinden nicht sagen, dass er es anders sähe als andere, wäre für ihn alles in Ordnung. Die Dinge sind also nicht notgedrungen erst dann in Ordnung, wenn sie von anderen für einen definiert werden. Auch die von Muho zitierte und von Nagai eingebrachte "Parallelwelt", taugt in meinen Augen als völlig fiktiv nicht zur Herleitung eines Ich-Verständnisses.
 
Ich habe dann aufgesteckt. Wahrscheinlich teile ich Nagais Zweifel nicht oder seine Hauptfrage treibt mich nicht genug um. Welchen praktischen Nutzen Nagais Philosophie haben soll, können ja gegebenenfalls seine Anhänger erklären. Ich halte manche der Linguistik (siehe u.a. "zweidimensionale Semantik") entlehnte Gedankengänge für recht komplex und unergiebig. Hier im Blog habe ich schon einmal erzählt, was es mit dem Bewusstsein auf sich habe, könne man ganz gut über die Bewusst(seins)losigkeit selbst erfahren, zum Beispiel, wenn man anästhesiert ist. Im Fernsehen sprach kürzlich eine wegen einer Covid-Erkrankung Intubierte davon, im Koma bestimmte Dinge gehört zu haben. Auf Nachfrage stellte sich jedoch heraus, dass sie zum Beispiel nichts von der Bauchlage ihres Körpers, also physischen Wendemanövern etc. mitbekommen hatte. Geist und Bewusstsein ist für mich in erster Linie Erkenntnismöglichkeit, Bewusstseinslosigkeit bedeutet Hilflosigkeit (von außen betrachtet). In der Bewusstseinslosigkeit ist die Ich-Wahrnehmung regelmäßig verschwunden, wacht man auf, ist sie wieder da. Dieser Vorgang ist ein so schlichter und doch schlagender Beweis für den Zusammenhang einer „normalen“ Hirnfunktion und dem Bewusstsein, dass ich Nagais Ansatz nicht verstehe. Ich weiß nicht, ob das was nutzen würde, aber Philosophen seiner Couleur sollten allesamt mal eine Darm- oder Magenspiegelung unter Dormicum oder Ähnlichem mitmachen, am besten schon in jungen Jahren, ehe sie derartige Konzepte entwerfen. Was die Beziehung des Ich zum Selbst angeht, so stehe ich noch immer C. G. Jung nahe. Das übliche Verständnis von Buddhisten kann hier ein Problem sehen, da Jungs Selbst dem indischen Konzept des atman ähnelt. Die Frage ist hier jedoch, ob solche Buddhisten das Opfer ihres eigenen Missverständnisses werden, also nicht annehmen wollen, was sie laut ihren Lehrern nicht annehmen dürfen, da an-atman (Nicht-Selbst) einen zentralen Glaubensinhalt darstellt. Ich habe hier im Blog auf jene Mahayana-Sutren verwiesen, die das gerade rücken und eine Integration des atman in die buddhistische Vorstellungswelt erlauben, und Übersetzungen davon veröffentlicht oder sogar selbst vorgenommen (Mahayana-Mahaparinirvana-Sutra, Shrimala-Sutra, Tathagatagarbha-Sutra).
 
 ***
 
Nun zu einem ganz profanen Thema, das ich eigentlich als Pausenfüller im Sommer schon einmal aufgreifen wollte. Es geht um die mangelnde Qualität von Laufschuhen. Ich nenne sie immer noch so. Seit Jahrzehnten trage ich kaum etwas anderes, und zwei Mal habe ich mit Modellen von Nike sehr gute Erfahrungen gemacht, also blasenfreies Laufen über Stunden und mehrjährige Haltbarkeit. Vor zwei Jahren machte ich dann mit zwei Adidas-Entwürfen ein Schnäppchen. Ich versuche prinzipiell nicht mehr als 50 € für ein Paar auszugeben, kaufe also nur Angebote und nie die neuesten Modelle, die einzige Ausnahme sind wasserdichte Outdoor-Treter, für die ich etwas mehr berappe). Ich erwerbe die Schuhe in Outlets oder Kaufhäusern und habe bisher anhand der Tipps, die man auf Youtube findet, auch noch keine als Kopien entlarven können. Die Hersteller wechseln ihre Modelle ja schneller, als sie sich abtragen. Eine Warnung kann dieser Beitrag wohl nicht sein, wahrscheinlich findet man die von mir kritisierten Schuhe kaum noch im Angebot. Kürzlich ist mir sogar bei einem Nike das Gleiche passiert, schon nach wenigen Monaten löste sich die Untersohle ab. Ein weiteres Problem ist die Abreibung des Stoffes über der Ferse, die regelmäßig schon bald ein Loch entstehen lässt und den Einsatz eines gepolsterten (Kunst-)Lederstückes nötig macht. Bei dem von mir kürzlich ausrangierten Zoom Pegasus war dies nicht der Fall, es ist also möglich, auch in dieser Hinsicht robustere Schuhe herzustellen. Warum aber die Haltbarkeit auf in der Regel höchstens ein Jahr begrenzt zu sein scheint und währenddessen schon wenigstens zwei Reparaturen pro Paar nötig werden (der Ledereinsatz und das Annähen der üblicherweise nur verklebten Sohle), sollten die Hersteller mal erklären. Es ist eine Schande. 600 bis 1200 Kilometer soll ein Laufschuh halten. Zwar hat sich mein Gewicht in den letzten Jahren bei knapp über 100 kg recht hoch eingependelt, aber das sollten die Designer berücksichtigen können. Mit zwei gut einstündigen Wanderungen pro Woche (auf die bringe ich es sicher, ansonsten schwimme ich inzwischen regelmäßig) hätte man also solche Schuhe bereits verschlissen. Dazu kommt, dass die Beratung beim Schuhkauf nicht funktioniert, dafür sollten doch die Hersteller mit Sorge tragen. Etliche Modelle taugen nur für kurze Einkaufstouren und ermüden bei langen Wanderungen, was, wie ich erst spät lernte, mit der Art zu tun hat, wie man geht; für diese passend sollte der Schuh hergestellt sein (Beispiel "Überpronation"). Aus diesem Grund kann ich auch nur bedauern, wenn jemand mehr als 50 € für seine Sneaker ausgibt. Das Risiko einer Enttäuschung ist zu groß. Der einzige Grund, warum ich das überhaupt noch mitmache, sind die geringen Kosten beim Schuster in Thailand, der an der Straße arbeitet und mir über Nacht die Sohlen für 2,50 € annäht oder sogar mal für den gleichen Preis Gummisohlen mit Superkleber über die billigen Plastikfetzen von Adidas, die sich nach acht Wochen Tragen auflösten, geklebt hat. Die Ledereinsätze kosten das Gleiche. 
 
Aufgeklebte Sohle für 2,50 € hält besser als das Original.
Hier wurde die Original-Untersohle nach Ablösung angenäht. Warum nicht gleich vom Hersteller?
Ledereinsatz zur Verstärkung des Fersenteils im gleichen Schuh.
Bei diesen Sandalen von Geox (die mit den Löchelchen in der Sohle zum besseren "Atmen") löste sich das Stoffoberteil schon bald von der Sohle und wurde deshalb mit ihr vernäht. Danach war der Schuh für längere Zeit "in Ordnung" als nach seinem Kauf im Originalzustand.
Meine bisher Besten (die ich ja nur zum ausgedehnten Umherwandern nutze): Zoom Pegasus 32.
 
Wo wir gerade beim Unherwandern sind ... Die Videos von Rambalac, der zu Fuß Japan erkundet und unkommentiert filmt, was er sieht, haben inzwischen eine weltweite Fangemeinde. Ich schaue sie mir gern an, während ich Bücher höre. Ab und zu zoomt Rambalac auf ein Detail, einen Falter am Boden, eine Katze. Und wie ich liebt er kalten Tee und ehrt die überall zu findenden Getränkeautomaten. Ich kenne die Gefühle, die man bei solchen Entdeckungstouren hat, sehr gut. Obwohl man in gewisser Weise einsam bleibt bei den Wanderungen, ist man doch mit allem verbunden.

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