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Louis de la Vallée-Poussin: Der Weg zum Nirwana

[Auszug:] Es heißt, Sakyamuni habe die Fragen bezüglich der Existenz einer vom Körper getrennten Seele und des Nirwana offengelassen, sie beiseitegeschoben oder zurückgewiesen.
Tatsächlich finden sich im Kanon jedoch eine Menge von Stellen, welche diese Fragen zumindest indirekt im Sinne einer Seelenlosigkeit oder Vernichtung klären. Wir können einräumen, dass (1) einige Schüler, oder auch viele Schüler, mit der nihilistischen Leere nicht zufrieden waren und darum in der Tiefe ihrer Herzen hofften, dass sie den Meister missverstanden hätten. Vergessen wir nicht, dass die Schüler von Sakyamuni zu ihm als dem Entdecker des Pfades der Todlosigkeit (amrta) kamen. Oder (2) es gab Mönche ohne jegliche Vorurteile, nur darum besorgt, völlige Klarheit bezüglich Nirwana zu erlangen, nicht durch logische Schlussfolgerungen gezogen aus psychologischen Voraussetzungen, nicht durch metaphorische und widersprüchliche Phrasen, sondern durch eine direkte und endgültige Aussage von den Lippen des Allwissenden. Und nicht zuletzt (3) gab es Mönche, welche niemals etwas von den nihilistischen Äußerungen von Sakyamuni gehört hatten und die verwundert waren über Sakyamunis Schweigen die Seele und das Nirwana betreffend.
Malunkyaputta war einer dieser Mönche:[1]
„Es gibt“, sagte Malunkyaputta, „Fragen, welche der Buddha nicht aufgeklärt hat, beiseite geschoben hat, zurückgewiesen hat ... Ob die Seele und der Körper identisch sind; ob die Seele eine Sache ist und der Körper eine andere Sache; ob ein Heiliger nach dem Tod weiterlebt; ob ein Heiliger nach dem Tod nicht mehr lebt; ob ein Heiliger nach dem Tod sowohl weiterlebt wie nicht mehr lebt; ob ein Heiliger nach dem Tod weder weiterlebt noch nicht mehr weiterlebt ... Der Umstand, dass Buddha diese Fragen nicht klärt, erfreut mich nicht. Ich will mich bei ihm erkundigen. Wenn er sie nicht beantwortet, werde ich das religiöse Leben unter der Führung des Buddha aufgeben.“
Malunkyaputta befragt den Buddha in diesem Sinne, und die Begegnung endet mit der Äußerung dieser starken Worte:
„Wenn der Herr es nicht weiß, so ist die einzig aufrichtige Sache für jemanden, der es nicht weiß, zu sagen: Ich weiß es nicht.“
Buddha räumt natürlich nicht ein, die Antworten nicht zu wissen, aber er beantwortet die Fragen auch nicht.
Habe ich je zu euch gesagt: „Komm, führe das religiöse Leben unter meiner Leitung, und ich werde dir diese Punkte erklären?“ Oder hast du zu mir gesagt: „Ich werde das religiöse Leben unter deiner Führung aufnehmen, wenn du mir diese Fragen beantwortest?“
Malunkyaputta gibt zu, dass der Buddha ihm nichts Derartiges versprochen habe, und auch er selbst habe seine Annahme der buddhistischen Regeln nicht an irgendwelche Bedingungen geknüpft. Und der Buddha fährt fort:
Wer auch immer sagen mag: „Ich werde das religiöse Leben unter dem Buddha nicht eher aufnehmen, als bis der Buddha all diese Punkte erklärt hat.“ Jeder, der dies sagt, wird eher sterben, als dass ich ihm diese Punkte erklären würde.
Die Menschen leiden unter tatsächlichen Schmerzen, welche geheilt werden wollen. Sie sind vergiftet vom Verlangen, und Verlangen schafft die Voraussetzungen für weitere Geburten und neues Leiden: Verlangen muss zerstört werden.
Es ist so, als ob dieser Mensch von einem vergifteten Pfeil getroffen wäre, und dieser Mann würde nun sagen: „Ich will nicht, dass dieser Pfeil entfernt wird, bevor ich nicht weiß, wer der Mann, der ihn auf mich geschossen hat, ist, ob er zur Kriegerkaste gehört oder nicht ..., bevor ich nicht seinen Namen kenne, seinen Klan, seine Statur, seine Gesichtsfarbe; bevor ich weiß, um was für einen Bogen es sich gehandelt hat, um was für eine Bogensehne.“ Dieser Mann würde sterben, bevor er alles in Erfahrung gebracht hätte.
So wie die Kenntnis all dieser Umstände nichts mit dem Entfernen des tödlichen Pfeils zu tun hat, so auch ist das Wissen all jener metaphysischen Aspekte gänzlich ohne Belang für die Lehre, welche Leiden und Verlangen beseitigt, die Lehre von der Heiligkeit:
Das religiöse Leben basiert nicht auf dem Dogma, dass die Seele und der Körper identisch sind, auf dem Dogma, dass die Seele das eine ist und der Körper das andere; auf dem Dogma, dass ein Heiliger nach dem Tod weiterexistiert oder nicht, oder sowohl weiterexistiert als auch nicht weiterexistiert, oder weder existiert noch nicht existiert. Egal, ob dieses oder jenes Dogma wahr ist, es bleiben dennoch Geburt, Alter und Tod, für deren Vernichtung ich die Unterweisungen gegeben habe ... Was ich nicht geklärt habe, soll ungeklärt bleiben.
So sprach Sakyamuni.
Diese „agnostischen“ Äußerungen sind höchst erstaunlich. Welche Meinung auch immer ein Buddhist hinsichtlich des Schicksals eines Heiligen haben mag, diese Meinung ist ein Hindernis für die Glückseligkeit, die Loslösung, die Heiligkeit und damit für Nirwana selbst.
Wenn Nirwana ein glücklicher Zustand wäre, würde der Mönch nach Nirwana streben wie nach einem Paradies, und er würde es demgemäß verfehlen: Er würde beim Tod eine Art von Paradies erreichen, ein erfreuliches aber vergängliches Paradies. Wenn Nirwana Vernichtung wäre, würde Nirwana ebenfalls Verlangen oder Widerwillen hervorrufen: In beiden Fällen ist Heiligkeit dadurch unmöglich. Angst bzw. Spekulationen bezüglich des Lebens nach dem Tod (antagrahaparamarsa) ist eine der fünf ketzerischen Sichtweisen. Darum „soll ungeklärt bleiben, was nicht von Sakyamuni geklärt wurde“. Ein Mönch wird Heiligkeit und Nirwana erreichen, ohne zu wissen, was Nirwana ist, und aus genau diesem Grund, infolge seiner Unkenntnis, bleibt er frei von dem Verlangen nach Existenz (bhavatrsna), frei von dem Verlangen nach Nicht-Existenz (vibhavatrsna): „Ich verlange nicht nach dem Leben; ich verlange nicht nach dem Tod.“
Wir glauben, dass die zutreffendste und höchste autoritative Bestimmung des Nirwana nicht Vernichtung ist, sondern „unbestimmte Befreiung“, eine Befreiung, von der wir nicht das Recht haben, irgendetwas auszusagen.

Louis de la Vallée-Poussin: Der Weg zum Nirwana. 
Sechs Vorträge zum frühen Buddhismus als eine Erlösungslehre. 
Aus dem Englischen von Julian Braun.
144 Seiten. Paperback. 15 €. ISBN: 978-3-943839-39-5. 
 


[1] Majjhima-Nikaya, I., S. 426; Hastings, E. R. E. Artikel „Agnostizismus“.

Kommentare

  1. Nirvana ist von Anfang an im Überfluss da, in jedem von uns.
    Die Farbeimer sind voll, der Pinsel des Lebens taucht mal in das Bunt, mal in das Schwarz, mal in das Weiß.
    Manche Menschen verirren sich in ihren Mischungen und sie leuchten nie wieder, und da kann der Buddha helfen.
    Es ist eine praktische Medizin, nicht jeder Mensch hat diese nötig.
    Ich spreche da von mir und vielen anderen, die ich auf dem Weg kennenlernte.
    Metaphysische Betrachtungen sind u. a. in den slawisch-arisch-indischen Veden zu finden,
    wenn man sich für diese Gebiete interessiert.

    "Verlangen muss zerstört werden."

    Solange dies nicht zum Verlangen wird.
    An diesem selbstreferentiellen Dualismus
    wird sichtbar, dass letztlich derjenige am kränkesten ist,
    der am längsten Buddha ist.

    Nur ein Narr würde eine wirkende Medizin, die ihm mal aus der Scheiße half, einem anderen nicht zutragen.

    Wer weiß welche Scheißefässer das Leben noch bereithält für ein' selbst?

    Ha, ha, ha.

    Big Dharma Wheels Keep On Turning,
    Proud Mary Keep On Burning :-)

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  2. "Malunkyaputta"...ohne mutige Fragen, - keine befreiende Antwort.
    Wer Antwort ist, - der braucht sich nicht um die einzige, entscheidende, Frage zu sorgen. Sie beantwortet sich von Selbst.

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